Tichys Einblick
Historische Warnung vor dem „Nanny-Staat“

Bildung, Bildung, Bildung

Bereits vor über 200 Jahren zeigte Wilhelm von Humboldt die Grenzen der Wirksamkeit des Staates auf. Die Wiederentdeckung einer – auch von Liberalen – zu Unrecht vergessenen Schrift.

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Wilhelm von Humboldt, älterer Bruder des Weltreisenden und Naturforschers Alexander von Humboldt, ist, wenn es um Bildungsdebatten geht, stets in aller Munde: vor allem mit seinem neuhumanistischen Bildungsideal sowie als Begründer des modernen Gymnasiums und der modernen Universität. 1810 hat er jene Berliner Universität gegründet, die ursprünglich Friedrich-Wilhelms-Universität hieß und seit dem 8. Februar 1949 seinen Namen trägt. Die wenigsten allerdings, die sich auf Wilhelm von Humboldt berufen, werden sein umfangreiches Schrifttum auch nur in Ansätzen gelesen haben.

Das Schrifttum des am 22. Juni 1767 in Potsdam geborenen, am 8. April 1835 in Tegel verstorbenen und dort zur letzten Ruhe gebetteten ursprünglichen Juristen, vorübergehenden Staatsbeamten, Gesandten und Ministers ist freilich nicht leicht zu überschauen und nicht immer leicht zu lesen. Bedauerlicherweise, denn selbst seine sprachtheoretische Arbeit „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“, erst posthum 1836 erschienen, hätte heute noch Beachtung verdient: etwa seine Überlegungen zum Zusammenhang zwischen einer nationalen Sprache und der Lebensweise des betreffenden Volkes. Oder seine Feststellung, dass jede Unterdrückung der Sprache auf eine Unterdrückung des Denkens hinausläuft. Frei übersetzt: Wie die Sprache verödet, so verödet das Denken.

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 Hier soll seine Jugendschrift vorgestellt werden, die den umständlichen Titel trägt: „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Humboldt hat sie als 25-Jähriger verfasst. Nur Teile davon wurden ad hoc in Schillers Zeitschrift „Neue Thalia“ und in der „Berlinischen Monatsschrift“ veröffentlicht. Humboldt hat die „Ideen“ dann beiseitegelegt, um sie später zu überarbeiten. Dazu kam es nicht, so dass die „Ideen“ erst 1851 posthum zum Vorschein kamen. Vermutlich ist das der Grund, warum diese Schrift in der Geschichte der Staatstheorie – bedauerlicherweise – keine Rolle spielt.

Beeinflusst sind die „Ideen“ zunächst von der Französische Revolution. 1789 hatte der junge Humboldt nur wenige Wochen nach dem Sturm auf die Bastille Paris besucht. Anfangs begeisterten ihn die Parolen der Revolutionäre: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Bald jedoch überwog bei Humboldt eine recht ambivalente Haltung. Die ausufernden Gewalttätigkeiten schreckten ihn ab. Vor allem sorgte er sich um die in der Revolution schlummernde Möglichkeit einer Totalität und Omnipotenz des Staates.

Humboldts nach heutigem Verständnis sehr (ordo-)liberale „Ideen“ wurden zudem von Schiller beeinflusst, mit dem er sich intensiv austauschte. Schillers Ideal des „ästhetischen Staates“ war zum Zeitpunkt des Erscheinens von Humboldts „Ideen“ bereits in statu nascendi: 1792 veröffentlicht als Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Ideelle Basis für den jungen Humboldt war zudem Immanuel Kants Definition von Aufklärung, wie sie in dessen Beitrag „Was ist Aufklärung?“ 1783/84 in der Berliner Monatsschrift dargelegt worden war: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Humboldt wünscht sich in den „Ideen“ einen Staat, in dem jeder Einzelne ein selbstbestimmtes Leben führen soll. In Kapitel 3 der „Ideen“ beschreibt er die Aufgaben des Staates (die in ihrer Originalschreibweise wiedergegeben werden):

„Der Zweck des Staats kann nämlich ein doppelter sein; er kann Glück befördern oder nur Übel verhindern wollen, und im letzteren Fall Übel der Natur oder Übel der Menschen. Schränkt er sich auf das letztere ein, so sucht er nur Sicherheit, und (durch) diese Sicherheit sei es mir erlaubt, einmal allen übrigen möglichen Zwecken, unter dem Namen des positiven Wohlstandes vereint, entgegenzusetzen. Auch die Verschiedenheit der vom Staat angewendeten Mittel gibt seiner Wirksamkeit eine verschiedene Ausdehnung. Er sucht nämlich seinen Zweck entweder unmittelbar zu erreichen, seis durch Zwang – befehlende und verbietende Gesetze, Strafen – oder durch Ermunterung und Beispiel; oder mittelbar, indem er entweder der Lage der Bürger eine demselben günstige Gestalt gibt und sie gleichsam anders zu handeln hindert, oder endlich, indem er sogar, ihre Neigung mit demselben übereinstimmend zu machen, auf ihren Kopf oder ihr Herz zu wirken strebt. Im ersten Falle bestimmt er zunächst nur einzelne Handlungen, im zweiten schon mehr die ganze Handlungsweise und im dritten endlich Charakter und Denkungsart. Auch ist die Wirkung der Einschränkung im ersten Falle am kleinsten, im zweiten größer, im dritten am größesten, teils weil auf Quellen gewirkt wird, aus welchen mehrere Handlungen entspringen, teils weil die Möglichkeit der Wirkung selbst mehrere Veranstaltungen erfordert. So verschieden indes hier gleichsam die Zweige der Wirksamkeit des Staats scheinen, so gibt es schwerlich eine Staatseinrichtung, welche nicht zu mehreren zugleich gehörte, da z. B. Sicherheit und Wohlstand so sehr voneinander abhängen, und was auch nur einzelne Handlungen bestimmt, wenn es durch öftere Wiederkehr Gewohnheit hervorbringt, auf den Charakter wirkt. Es ist daher sehr schwierig, hier eine dem Gange der Untersuchung angemessene Einteilung des Ganzen zu finden. Am besten wird es indes sein, zuvörderst zu prüfen, ob der Staat auch den positiven Wohlstand der Nation oder bloß ihre

Sicherheit abzwacken soll, bei allen Einrichtungen nur auf das zu sehen, was sie hauptsächlich zum Gegenstande oder zur Folge haben, und bei jedem beider Zwecke zugleich die Mittel zu prüfen, deren der Staat sich bedienen darf.

Humboldt positioniert sich gegen einen patriarchalischen, paternalistischen Staatsgedanken. Nicht der Staat steht für ihn im Vordergrund, sondern das Individuum. In dessen Interesse muss der Einfluss des Staates weitgehend zurückgedrängt werden. Eine Einmischung des Staates in Privatangelegenheit der Bürger hält Humboldt für „verwerflich“. Allein für die innere und äußere Sicherheit solle der Staat zuständig sein.

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 Humboldt setzt auf Eigenverantwortung statt Entmündigung. Das ist höchst aktuell selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Denn die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ist Bedingung individueller Freiheit und des Subsidiaritätsprinzips. Werden Staat und Gesellschaft aber als Eines und als Totales gesehen, leiden Freiheit und Subsidiarität. Das heißt, der Staat soll nur dort handeln, wo die Möglichkeiten von Individuen und Gruppen überfordert sind.

Im Grundsatz geht es Humboldt hier um ein Menschenbild, das dem Individuum zutraut und zumutet, sein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung zu meistern. Ein anderes – sozialistisches – Menschenbild kollektiviert Verantwortung, es glaubt nicht an die Vernunftfähigkeit des Individuums und möchte die Menschen qua bequemen Wohlfahrtsstaat leiten wie eine Herde von dummen Schafen. Es gehört für Humboldt aber implizit zur Menschenwürde, dass der Mensch seine Bedürfnisse möglichst aus eigenen Kräften befriedigt und nicht der Staat als allmächtige administrative Sozialagentur, als Garant für die Erfüllung von Vollkasko-Ansprüchen.

Wir müssten mit Humboldt eigentlich wissen: Für den einzelnen sind die Folgen einer maßlos an den Staat gerichteten und vom Staat womöglich bestätigten Allmachtserwartung eine fürsorgliche Entmündigung, ein Verführen zur Bequemlichkeit, eine Erosion von Eigeninitiative und Eigenverantwortung, eine durch den Wohlfahrtsstaat antrainierte Trägheit oder gar eine erlernte Hilflosigkeit. Zudem erodiert der Sozialstaat mit jeder Expansion. Denn je mehr Sozialstaat, desto weniger Sozialstaatsmoral.

Humboldt erahnt das sehr konkret, wenn er schreibt:

„Überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigene Tätigkeit, eigne Erfindsamkeit oder eigne Benutzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staates aber führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst wenn dieser der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken …. Noch mehr aber leidet durch eine ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter … Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt, Damit verrücken sich seine Vorstellungen von Verdienst und Schuld. Die Idee des erstern feuert ihn nicht an, das quälende Gefühl der letztern ergreift ihn seltener und minder wirksam, da er dieselbe bei weitem leichter auf seine Lage und auf den schiebt, der dieser die Form gab … Nicht minder sichtbar ist jener nachteilige Einfluss in dem Betragen der Bürger gegeneinander. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staates verlässt, so und noch weiter übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfeleistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hilfe da am tätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe … Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“

Und an anderer Stelle:

„Denn je mannigfaltiger und eigenthümlicher ein Mensch sich ausbildet, je höher sein Gefühl sich emporschwingt; desto leichter richtet sich auch sein Blick von dem engen, wechselnden Kreise, der ihn umgiebt, auf das hin, dessen Unendlichkeit und Einheit den Grund jener Schranken und jenes Wechselns enthält, er mag nun ein solches Wesen zu finden, oder nicht zu finden vermeint. Je freier ferner der Mensch ist, desto selbstständiger wird er in sich, und desto wohlwollender gegen andre. Uns aber führt nichts so der Gottheit zu, als wohlwollende Liebe; und macht nichts so das Entbehren der Gottheit der Sittlichkeit unschädlich, als Selbstständigkeit, die Kraft, die sich in sich begnügt, und auf sich beschränkt. Je höher endlich das Gefühl der Kraft in dem Menschen, je ungehemmter jede Aeußerung derselben; desto williger sucht er ein inneres Band, das ihn leite und führe, und so bleibt er der Sittlichkeit hold, es mag nun dies Band ihm Ehrfurcht und Liebe der Gottheit, oder Belohnung des eignen Selbstgefühls sein. Daher erscheint der also gebildete Mensch in seiner höchsten Schönheit, wenn er ins praktische Leben tritt, wenn er, was er in sich aufgenommen hat, zu neuen Schöpfungen in und außer sich fruchtbar macht.“

Basis für das Gelingen eines solchen Staats- und Gemeinwesens ist für Humboldt Bildung, Bildung, Bildung. Bereits in Kapitel 1 der „Ideen“ schreibt er:

„Denn die wichtige Untersuchung der Gränzen der Wirksamkeit des Staates muss – wie sich leicht voraussehen lässt – auf höhere Freiheit der Kräfte und größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfniss, gleichsam in einförmigem, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen.“

Vor allem aber – und das ist eine der bekanntesten Passagen dieses Werkes – geht es Humboldt um eine umfassende Allgemein- und Persönlichkeitsbildung. Kapitel 2 beginnt denn auch wie folgt:

„Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes – Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“

Das mag antiquiert klingen, ist aber sehr zeitgemäß. „Proportionierlich“ heißt nämlich: Alle Anlagen müssen gleichermaßen gefördert werden, hinsichtlich der verschiedenen Bildungsbereiche müssen die Proportionen stimmen. Diese Proportionen stimmen, betrachtet aus heutiger Perspektive, vielfach jedoch nicht mehr. Denn „Bildung“ bzw. das, was man heute dafür hält, scheint mehr und mehr ausgerichtet auf das rein Funktionale, Ökonomische, Utilitaristische, Messbare. Aber dieses Thema muss an anderer Stelle diskutiert werden, durchaus unter Bezug auf Wilhelm von Humboldt, der alles andere als überholt ist.


Aus:
Josef Kraus und Walter Krämer, Sternstunden. Große Texte deutscher Sprache. Ganzleinenband mit Schutzumschlag, 466 Seiten, 24,90 €.

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