Tichys Einblick
Rezension

Anpassungszwang oder „Das falsche Leben“

Immer wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit, sich zu besinnen (Mark Twain).

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Die Stimme von Wissenschaftlern und Experten, die nicht ins Bild des Mainstreams passen, wird kaum noch gehört. Anstatt die unterschiedlichen Ergebnisse der Forschung öffentlich zu präsentieren und diskutieren, erblickt oft nur die „genehme“ Seite das Licht der Leitmedien. Und wenn einmal ein „Andersdenkender“ in eine Talkshow eingeladen wird, sind viele im Publikum schon so lange in die akzeptierte Richtung „überzeugt“ worden, dass ihnen die andere inzwischen unsinnig und im wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“ vorkommt. Das ist naturgemäß besonders bei Themen so, die für den Laien kaum durchschaubar sind und gründlicher fachlicher Kenntnisse und damit kundiger Erklärungen durch Fachleute bedürften, denen dann – wie wir oft erleben – fachfremde Politiker ungehemmt ins Wort fallen dürfen.

Stigmatisierung nicht politisch korrekter Wissenschaftler

Wenn ein nicht dem Mainstream folgender Wissenschaftler oder Sachverständiger allein durch seine nachvollziehbare Argumentation und seine Authentizität überzeugend und glaubwürdig auftritt und auch einen lebendigen Austausch nicht scheut, ist es wahrscheinlich, dass er bald darauf nicht mehr eingeladen wird und man ihm irgendwann als Buchautor und bei Interviews und Vorträgen im Internet wieder begegnet.

So hat es der Nahost-Experte Michael Lüders erlebt, der seit seinen dem medialen Diskurs widersprechenden Aussagen über die Lage in Syrien bei Markus Lanz unter Beschuss steht. Einer Talkrunde bei Frau Will im 9. April 2017 wurde er dann gleich zu Beginn der Sendung nicht mehr als Nahost-Experte, sondern als Wirtschaftsberater vorgestellt, der sein Wissen an Firmen verkaufe, die im Nahen und Mittleren Osten Geschäfte machen wollten. „Eine differenzierende Haltung einzunehmen, gilt offenbar als nicht opportun“ war dann auch das Fazit von Michael Lüders, der jahrelang eine feste Größe in Nachrichtensendungen und Talkshows war.

Eine solche „differenzierende Haltung“ beinhaltet nämlich keineswegs die „einfachen Antworten“, die Andersdenkenden immer unterstellt werden. Im Gegenteil: Wer einfache Antworten hören will, sollte den Worten der Kanzlerin lauschen: „Wir schaffen das“, „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ – und den Versuchen der Politik, strittige Vorhaben mit dem Totschlagargument durchzusetzen, die Sache sei „alternativlos“.

Hans-Joachim Maaz und das falsche Leben

Wie Michael Lüders erging es auch Hans-Joachim Maaz – Psychonalytiker, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und von 1980 bis 2008 Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle/Saale – , der seit seinem Auftritt bei Anne Will kaum mehr in den Leitmedien (TV oder Print) gesehen ward. Die Psychoanalyse hat sich zur Aufgabe gemacht, den Menschen in seiner ganzen Komplexität unter besonderer Berücksichtigung unbewusster Prozesse zu erfassen. Um 1900 hat sie ganze Generationen von Kunstschaffenden beeinflusst und ist in ihre Werke eingeflossen. Kunst, Literatur und Musik erlebten damals eine ungeahnte Blütezeit.

Doch diese umfassende Sicht auf den Menschen ist heute nicht mehr gewünscht. Schon der früh verstorbene Mitherausgeber der „Frankfurter Zeitung“ Frank Schirrmacher beschreibt in seinem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“, wie das Modell des homo oeconomicus (dem ausschließlich auf wirtschaftliche Gewinnmaximierung fixierten Menschen) von unserer Welt Besitz ergreift. Das europäische Ideal des homo politicus, der sich in einer Solidargemeinschaft für das Gemeinwesen einsetzt, wird schleichend ersetzt durch diesen homo oeconomicus. Doch das, was man uns als Bild des Menschen verkauft, nämlich die Reduktion auf egoistisches Handeln, Wettbewerbs- und Profitdenken, ist eben nur eine Interpretation der Wirklichkeit.

Konsumenten statt Bürger

In der Welt der globalen Eliten wird der Staat nicht mehr als ein solidarisches Gemeinwesen betrachtet, das durch den Sozialstaat getragen wird, sondern – mit Unterstützung der Medienkonzerne – als ein Unternehmen, in dem der als „Humankapital“ verstandene Mensch nicht mehr nach seiner Meinung, seinen Wünschen und Bedürfnissen zu befragen ist, sondern nach seinem Nutzen. Der ehemalige Staatsbürger wird folgerichtig zum auswechselbaren, gesichtslosen „Hier-schon-länger-Lebenden“, der einzig und allein dem wirtschaftlichen Wachstum verpflichtet ist. Eine der ersten Politikerinnen, die dieses Menschenbild öffentlich vertrat, war die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die ihren Zielen unverblümt mit den Worten Ausdruck verlieh: „Economics are the method, the object is to change the heart and soul“.

Dem Versuch, diesen eindimensionalen „neuen Menschen“ zu schaffen, stehen die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie, so wie sie Hans-Joachim Maaz in seinem Buch „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ vertritt, konträr entgegen. Wir leben – so Maaz – heute in einer Welt, deren Realitäten uns mit den beschönigenden Worten des Orwellschen „Neusprechs“ verborgen werden sollen. Uns wird eine Scheinrealität, eine „schöne neue Welt“ vorgegaukelt: „Deutschland ist ein reiches Land“, „Wir schaffen das“, sowie das ständige Gerede von Rechtsstaatlichkeit und Wertegemeinschaft, von Menschenrechten und der Verteidigung „unserer“ Werte. Wir sollen überdies auch noch glauben, dass aus dem Deutschland des abgrundtief Bösen nun ein Land der grenzenlos Guten geworden ist. Abweichende Meinungen werden diffamiert, Protestbewegungen, die der inneren Beunruhigung der Bürger Ausdruck verleihen, verteufelt.

Gesundungswille im Protest

Für Dr. Maaz kündigen Protestbewegungen dagegen einen „Gesundungswillen“ an. Protest transportiere immer einen Ich-Willen und formuliere ein „Nein“ gegen erlebte Belastung, Benachteiligung und Kränkung. „In jedem Protest liegt immer eine tiefe Wahrheit verborgen, egal wie verstört, überzogen, demagogisch und inhaltlich falsch er vorgetragen wird. Mit einer Nichtbeachtung, bloßen Ablehnung oder offensiven Abwertung einer kritischen Opposition wird nichts verstanden und ist gar nichts gewonnen, sondern nur Öl ins Feuer wachsender Feindseligkeit gegossen.“ (S. 191-193)

Der Mensch spürt instinktiv, wenn ihm etwas aufgenötigt werden soll. Wir ahnen, wenn wir in einem falschen Leben, in einem falschen Selbst leben, doch diese Tatsache soll unser Bewusstsein nicht erreichen. Wir sollen nicht wahrnehmen, dass die Medien uns Wissen vorenthalten und uns keine unterschiedlichen Blickwinkel auf das Geschehen anbieten. Dass wir unter einer Regierung leben, die mit Doppelstandards misst und unter deren Bedingungen – ausgenommen Filme – dann auch keine Kunst mehr entstehen kann, denn die Künste leben davon, die ganze Wahrheit ohne ideologische Einschränkungen zu erzählen und die Ambivalenz des Menschen mit all seinen Gefühlen von Trauer, Freude, Verzweiflung, Leidenschaft und Hass darzustellen. Johann Wolfgang von Goethe hat es dem Dichter Torquato Tasso in seinem gleichnamigen Bühnenstück in der Mund gelegt: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ Peter Schneeberger von der 3 SAT-Sendung „Kulturzeit“ sprach bezeichnender Weise in seiner Anmoderation vom 24.1. vom „Ende der Kunst“.

Immer tiefere Spaltung

Täglich erleben wir die immer tiefere Spaltung unserer Gesellschaft, steigende Ausgaben und Zunahme von Gewalt und Kriminalität, den Verfall von Infrastruktur und Bildung, die größten weltweiten Fluchtbewegungen. Der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels berichtet von desaströsen Zuständen in der Bundeswehr, von Frust in der Truppe. Es ist die Rede von rechtswidriger Vergabe von Beraterverträgen des Verteidigungsministeriums. Vor unseren Augen spielen sich völkerrechtswidrige Kriege ab, Drohnen töten ohne Gerichtsurteil wehrlose Menschen, Gesetze werden außer Kraft gesetzt. Es ist vielen nicht mehr möglich, zu sparen und für die Zukunft vorzusorgen.

Dass sich hinter der geschönten Fassade vieles verbirgt, was uns nicht vermittelt werden soll und beschwiegen wird, könnte jeder wahrnehmen. Doch Tatsache ist: der Mensch verdrängt gerne, verschließt die Augen vor Unangenehmem, stiehlt sich aus seiner Verantwortung als Staatsbürger und verkriecht sich in seine Wohlfühlblase, die die Konsumgesellschaft für ihn bereit hält. Jeder Mensch braucht soziale Anerkennung, Bestätigung von außen, ein Gefühl der Zugehörigkeit. Die Frage ist nur, wo die Grenzen von Anpassung und Verleugnung der Wirklichkeit liegen, wenn man aus der Vergangenheit weiß, dass im Dritten Reich schwerste Verletzungen der Menschenrechte unter dem Vorwand der Notwendigkeit solcher Handlungen unter den Augen der Öffentlichkeit geduldet wurden.

Das krampfhafte Aufrechterhalten dieser Scheinwelt mit ihrem schizophrenen Orwellschen „Doppeldenk“ erfordert große psychische Anstrengungen und Verdrehungen, kann tiefe seelische Not erzeugen. In seinem Buch beschreibt Hans-Joachim Maaz die Folgen zwanghafter Anpassung einer normopathischen Gesellschaft, die ihre Fehlentwicklung schon gar nicht mehr wahrnimmt, weil sie darin schon zu tief befangen ist. Zitat: „So können Störung, Abnormität und Destruktivität als normal, richtig und notwendig erscheinen, wie wir dies etwa im Nationalsozialismus und Sozialismus zur Kenntnis nehmen mussten und heute in einer narzisstischen Gesellschaft als Gefahr einer bedrohlichen Fehlentwicklung erkennen sollten.“

Gefühle abgespalten

Die Folge ist: Gefühle werden abgespalten. Als Barack Obama auf dem Kirchentag 2017 die Notwendigkeit von Tötungen durch Drohnen verteidigte, hätte ein Aufschrei erfolgen sollen. Doch die Worte des amerikanischen Präsidenten ernteten nicht Tränen, Trauer und Empörung, sondern verständnisvollen johlenden Beifall und Bewunderung von Kanzlerin, Kirchenvertretern und Publikum für den Sympathieträger Obama. Der israelische Historiker Saul Friedländer hat gerade in einer Gedenkstunde zum 74. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen vor dem Bundestag gesprochen und erschreckende Beispiele für die totale Abwesenheit jeglicher Empathie für das Leiden der Juden geschildert, dessen direkte Zeugen viele wurden oder das sie zumindestens erahnen konnten.
Immer wenn man die Meinung der Mehrheit teilt, ist es Zeit, sich zu besinnen (Mark Twain).