Tichys Einblick
Gedrängelt, gelesen, gehört

Buchmesse – der Gottesdienst der Bibliophilen und anderer Medienkonsumenten

Für einen Besuch der Buchmesse in Leipzig sollte man psychisch gefestigt sein. Es könnte zu Anthropophobie (Angst vor Menschen), Agoraphobie (Angst vor Menschenansammlungen) oder Aphephosmophobie (Angst vor Berührung) beim Mitschwimmen in den Körperfluten durch Gänge und Hallen kommen. Bibliophobie wird keinem Besucher zu Eigen sein, so einer wäre schon nach wenigen Metern platt.

Jens Schlüter/Getty Images

Schreckhaft sollte man nicht sein, wenn Roboritter mit einer Tachyonen-Handfeuerwaffe oder schrill geschminkte Elfen den Bereich der Manga-Comic-Con verlassen und im zurückhaltend gekleideten Normalpublikum auffallen. Fotogener in jedem Fall als die meist biederen Stände von Verlagen und Autoren, Ländervertretungen, öffentlich-rechtlichen Flyer-Hochburgen oder staatsamtlichen Dependancen.

Die unbeschreibliche Menge an Büchern zwingt zur Konzentration auf die persönlichen Interessen. Wer sich nicht selbst orientiert, droht im Büchermeer zu ertrinken. Ein kleiner chinesischer Stand bietet zwei solide Wälzer mit grundlegenden Ausführungen von Xi Jinping zu den Grundsätzen der KP-Politik. Viel Papier im Sonderangebot für 10 Euro, aber schwer lesbare Funktionärssprache. Sicherlich wäre die eine oder andere Erkenntnis zu gewinnen, aber nur mit erheblichem Zeitaufwand. Die Standbetreuer bleiben trotzdem freundlich, wie man insgesamt sagen muss, dass es angenehm zwanglos zugeht und basarähnliche Vertreter ganz selten sind. Der Vorteil der Messe besteht in viel Information ohne Kaufdruck und den Gesprächen zu verschiedensten Themen.

Begleitend findet eine Fülle von Lesungen und Foren statt. Dabei gibt es Rührendes wie Langweiliges, Erhellendes und ausgewalzten Quatsch zum Davonlaufen. Bei der Vielzahl der Veranstaltungen ist für jeden was dabei, vorherige Orientierung und Auswahl vorausgesetzt.

Ein netter Herr vom Stand einer schweizer Zeitung hält es für bemerkenswert, dass die Dieselkrise an den deutschen Grenzen endet. Er fahre selbst einen und käme immer ins große Nachbarland zum Tanken. Wir sind uns schnell einig, dass vieles an Deutschlands Grenzen endet, der Atomausstieg wie auch der Sozialstaat. Weltoffenheit ist eben begrenzt.

„Zeit“ wie auch „Spiegel“ haben sich auf mehrere Stände in verschiedenen Hallen verteilt. Gratisexemplare gibt es nur nach Ausfüllen eines Abo- oder Probeabo-Formulars. Dabei durchstößt der „Spiegel“ die Grenzen nach unten: acht Ausgaben für sieben Euro! Absatz um jeden Preis, es klingt wie Ausverkauf. Ich lehne dankend ab, für sieben Euro gibt es andernorts mehr Qualität.

In Halle 5 eine Insel linksprogressiver Verlage, wahlweise mit anarchistischer, leninistischer oder ökoradikaler Ausrichtung, in trauter Gemeinschaft mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Graswurzel-Bewegung.

An einem der Stände bietet mir ein Herr marxistische Literatur an. Ich vertraue ihm an, dass ich ausreichende Informationen dazu schon in der Schule erhielt und dass es in der Praxis nicht funktioniert hätte. Sein entwaffnendes Argument: „Flugzeuge sind auch nicht beim ersten Versuch geflogen.“ Und Venezuela? Das sei kein Sozialismus.

Die „Junge Welt“ bietet nicht nur die aktuelle Ausgabe gratis an, auch die „Granma“ als kubanisches Zentralorgan auf Deutsch. Dazu Broschüren über Castro (Fidel und Raul) und Che und Würdigungen der kubanischen Revolution. Sie scheint eine Erfolgsgeschichte zu sein. Daneben nimmt sich das „Neue Deutschland“ fast bürgerlich aus. Berichterstattung über die Proteste gegen die Hamas im Gazastreifen inklusive Streiks. Über Hamas-Gewalt einschließlich Folter gegen die Protestierenden wird nüchtern und sachlich informiert. Das Thema spielt in den führenden „Qualitätsmedien“ kaum eine Rolle.

Am Stand der „taz“ wird versichert, dass die Druckausgabe beibehalten werden soll, aber alles hänge eben von den Kosten ab. In der aktuellen Ausgabe eine Attacke auf Giffeys Idee, Väter beim Unterhalt nach dem Hälftigkeitsprinzip besser zu stellen. Auf der Grundlage des „Gender-Gap“ tischt ein Mann die ewige Geschichte der benachteiligten Frauen auf. Übrigens: In Cottbus liegt der Durchschnittsverdienst der Frauen über dem der Männer. Und sie leben auch noch länger. Kein Aufschrei der Gleichstellungsbeauftragten.

Ein Beitrag informiert über ein Treffen der NPD mit der Hisbollah und beschreibt die Gemeinsamkeiten. Neonazis und Islamfaschisten stellen Übereinstimmungen ihrer Ideologien fest. Diese Informationen gibt es exklusiv von der „taz“ – Schweigen der „Leitmedien“. Weitere Themen: Der Niedergang der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und der Vorschlag der Linken, in Berlin Zeltstädte für die Unterbringung von Obdachlosen zu bauen. Letzteres finde ich etwas dünn für eine linke Zukunftsvision.
Natürlich ist linke Presse auch Kampfpresse, es finden sich dennoch Informationen, die dem Nachrichten-Mainstream nicht wichtig genug scheinen oder deren Weltbild nicht entsprechen.

Ein sympathischer junger Mann am Rondell der ARD, zuständig für die Stand-PR von Radio Bremen, lehnt offen meinen Fusionsvorschlag mit dem NDR ab. Warum? „Weil Bremen eine bedeutende Stadt ist.“ Die Bemerkung, dass dies Berlin wohl auch sei, auch nach der Fusion von SFB und ORB zum rbb, lässt er nicht gelten. Berlin sei anders. Dem kann nicht widersprochen werden. Der Hinweis, dass eine Fusion im Norden eine hochdotierte Intendantenstelle einspare und vielleicht die lästige Gebührendiskussion entschärfe und der Vorschlag, er solle das seiner Chefetage mitteilen, zieht auch nicht. „Wenn ich Zugang zur Chefetage hätte, säße ich nicht hier“. Sein Klartext gefällt mir.

In der „taz“ wird auch die „Qual der Wahl“ des/der neuen SWR-Intendan_*In beschrieben. Die Quote (bisher nur drei Intendantinnen innerhalb der ARD) spricht für die einzige Frau unter den zwei Bewerber_*Innen in der engeren Auswahl, aber die Findung ist kompliziert und intransparent. Der scheidende Intendant macht eine 338.000-Euro-Stelle frei, da geht die Nachbesetzung nicht ohne einiges Gezerre hinter den Kulissen ab. Zumal der männliche Bewerber Kai Gniffke heißt, sturmerprobt als „Tagesschau“-Chef und sicherlich in der Lage, das neue ARD-Framing beim SWR umzusetzen.

Was erschwerend hinzu kommt: Die Fusion von Süddeutschem Rundfunk und Südwestfunk zum SWR vor 21 Jahren habe Spuren hinterlassen, „die alten Gräben bestehen zum Teil heute noch“. Jetzt verstehe ich den jungen Mann von Radio Bremen besser.

Am Ausgang kreuzt ein Yedi-Ritter mit Lichtschwert den Weg. Vermutlich ist in diesen Zeiten der temporäre Aufenthalt in einer Traumwelt eine gute Alternative.