Tichys Einblick
Viereinhalb Köpfe über den Lockdown

Bei Illner: „Verboten ist alles, was Spaß macht“

Habeck, der Ministerpräsident des Saarlandes, Ärzte und eine Virologin diskutieren über den Lockdown - allerdings nicht wirklich über das Ob. Wir lernen: „Kontakte sind schlecht“ und dass Solidarität bedeutet, dass alle gleich leiden. Die wichtigen Fragen bleiben offen.

Screenprint: ZDF/maybrit illner

„Es wird keinen zweiten Lockdown geben“, so hieß es bis vor kurzem noch. Doch so wie die Energiewende nun doch ein bisschen mehr als eine Kugel Eis kostet, und anders als von Altmaier erwartet doch der ein oder andere Arbeitsplatz durch Corona verloren gegangen ist, konnte auch dieses Versprechen nicht eingehalten werden. Und auch wenn der Beschluss zum 2. November auf unterschiedliche Weisen schön geredet und heruntergespielt wird, so stehen wir trotzdem wieder vor leeren Regalen, wo einst das Klopapier anzutreffen war. Das letzte Wort haben nur noch die Gerichte; abgesehen davon ist das Kind in den Brunnen gefallen. Um jetzt nachträglich darüber zu philosophieren, wie es dem Kind da unten wohl ergeht und ob es schlau war in den Brunnen zu fallen – dafür hat man sich am Donnerstagabend bei Maybrit Illner zusammengefunden.

Heft 11-2020
Tichys Einblick 11-2020: Wieviel DDR steckt heute in Deutschland?
Zu Gast bei der Sendung mit der Leitfrage „Die Welle brechen – wie weit fährt Deutschland runter?“ ist unter anderem Robert Habeck. Zwischenzeitig schon als nächster Kanzler gehandelt, hat der bodenständige „Schönling“ unter den Politikern sich wohl vorgenommen, keine Sympathien zu verspielen. Corona hat quer durch die politischen Lager einen tiefen Keil getrieben, das schließt auch die Grünenwähler nicht aus. Ist der Lockdown nun also gerechtfertigt oder nicht? Habeck hat lange angestrengt nachgedacht, und seine Antwort ist ein eindeutiges Vielleicht.

Sein Gegenüber: Tobias Hans. Der CDU-Politiker befindet sich als Ministerpräsident des Saarlandes in einer anderen Position als Habeck. Er ist nicht im Wahlkampfmodus, sondern muss seinen Posten verteidigen. Als gutes Unionsmitglied und Muttis Liebling beschränkt er sich auf die Parteilinie. Das heißt Lockdown ja – aber bitte mit Sahne und poetisch und schonend umschrieben.

Nicht im Studio, aber dafür live zugeschaltet Ute Teichert, ihres Zeichens Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Sie spricht nur, wenn sie gefragt wird – mit „Ich bin übrigens auch Ärztin“ versucht sie, nicht ganz in Vergessenheit zu geraten. Taucht sie doch wieder auf, denkt man sich: „Ach ja, die ist ja auch noch da“, und da sie auch nichts anderes zu sagen hat, als dass der Lockdown aktuell der einzige Ausweg aus dem „Flächenbrand“ ist, braucht sie uns auch nicht weiter zu interessieren.

Dokumentation
Gebote statt Verbote: Kassenärztliche Bundesvereinigung nennt Alternativen zum Lockdown
Von besonderer Relevanz dagegen: Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Wer in letzter Zeit die Nachrichten verfolgt hat, der hat von dem Positionspapier mehrerer Wissenschaftler, Ärzte und Verbände gehört, in dem ein Umdenken im Umgang mit der Corona-Pandemie gefordert wird. Zu den Verfassern zählen die Virologen Hendrik Streeck, Jonas Schmidt-Chanasit und eben die besagte Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Der Rückgang der Fallzahlen ist ihnen zufolge zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis, und so hangelt man sich mit einer Mischung aus Kritik und Zugeständnissen zwischen den Lagern entlang – und schafft es aber immer noch, im Mainstream gehört zu werden.

Andreas Gassen wäre vielleicht der Star der Show, wenn er mal ausreden dürfte, aber eine Person scheint es besonders auf ihn abgesehen zu haben. Die Virologin und Infektionsbiologin Melanie Brinkmann soll wohl für Abwechslung sorgen, als eine hübschere und mehr oder weniger sympathischere Version von Drosten.

Augenscheinlich am qualifiziertesten hat sie den wohl größten Redeanteil und fordert ihren Gegenüber Gassen immer wieder heraus. Ihrer Meinung nach müssten wir uns wohl weltweit alle auf dem Baum verstecken. Da das aber leider eindeutig nicht möglich ist, muss man sich realistischere Maßnahmen einfallen lassen. Und diese Maßnahmen wurden mehr oder weniger ausdebattiert – mit drei Linientreuen, einem Mainstream-tauglichen Kritiker und einem unentschlossenen Habeck.

Lockdown oder kein Lockdown – das ist nicht die Frage

Ob der Lockdown vielleicht doch nicht das richtige ist, wird kaum erörtert. Gassens Alternativvorschläge werden mehr oder weniger angehört, aber eher als Zusatzmaßnahmen begriffen. Die anderen sind sich einig: Regionale Maßnahmen werden auch nichts ändern, schließlich ist die Lage so ziemlich überall dunkelrot. Jetzt heißt es eingreifen und das drastisch, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Intensivbetten sind begrenzt, und wir wollen doch nicht, dass man im Winter nicht mehr alle behandeln kann. Dies Mal hat man aber aus den Fehlern vom letzten Mal gelernt, die Wirtschaft soll geschont werden, der Fokus liegt in der Kontaktbeschränkung. Maybrit Illner bringt das mit dem Satz „Erlaubt ist was sein muss, verboten ist alles, was Spaß macht“ ganz gut auf den Punkt. Als sie zu dem Thema angesprochen wird, reagiert die Virologin Brinkmann gereizt. Erst seufzt sie theatralisch, dann verdreht sie die Augen, um dann zu der fachmännischen Einschätzung zu kommen: „Kontakte sind schlecht.“

Geschäftsgeheimnisse
Was testet der Corona-Test: Der Berliner Senat hat keine Ahnung
Tobias Hans ist im Grunde der selben Meinung, er hält sich aber an Bezeichnungen auf. Zu behaupten, der Lockdown würde das Land ins künstliche Koma versetzten, findet er respektlos – den Patienten gegenüber, die wegen Corona tatsächlich in ein künstliches Koma versetzt werden müssen. Wie viele das real sind, erwähnt er allerdings nicht. Was er dagegen stolz berichtet, ist, dass niemand so sehr die Kontakte verfolgt wie wir in Deutschland und dass alle um uns rum uns um unsere Maßnahmen beneiden. Auch wenn die Corona-Warn-App noch ausbaufähig ist, so ist sie doch der Grund, warum der Verlauf in Deutschland so ruhig ist wie nirgends sonst. Trotzdem ist die Lage hier so ernst, dass selbst die milderen Richtlinien, die Gassen fordert, auf rot stünden. Über regionale Vorgehensweisen statt Gießkannenprinzip braucht man daher gar nicht zu diskutieren.

Da sich diese Einschätzung gegen ihren Lieblingsrivalen richten, stimmt Brinkmann dieser Einschätzung natürlich zu. Bei ihr hört es sich fast an wie eine unentschuldbare Anmaßung von Seiten Gassens, für seine Positionen überhaupt Papier zu verschwenden. Alles was er fordert – die Infektionszahlen im Kontext zu sehen, Masken zu tragen und Abstand zu halten usw., wurde bisher eingehalten, und wohin hat es uns gebracht? Sie weist Gassen zurecht, der sie unentwegt unterbrechen will – aber keine Chance hat. Dafür springt Habeck ihm zur Seite. Der hat sich zwar mit dem bevorstehenden Lockdown längst abgefundem, ist aber mit dem KBV-Vorstandsvorsitzenden einer Meinung, wenn es um regionale Ampelsysteme geht.

Allgemein stört Robert sich an dem Denunziantentum, zu dem in diesen Zeiten angeregt wird. Er findet, dass Politik die Menschen nicht gegeneinander aufbringen sollte – Wir-Gefühl statt „Ich, ich, ich“. Immerhin.

Solidarität ist sowieso wie immer das Stichwort dieser Debatte. Habeck und Gassen verstehen darunter das Fokussieren auf die Schwächeren in unterschiedlichem Ausmaß, während Hans der Meinung ist, dass Solidarität bedeutet, dass erstmal alle gleich bestraft werden müssen.

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Pandemie-Debatte zwischen Selbstgewissheit und Panik
Die Position des saarländischen Ministerpräsidenten ist ohnedies sehr interessant. Er hat verstanden, dass sich niemand über den Lockdown freut.
Er gibt sich verständnisvoll, sagt Sätze wie „Es ist ja kein Leben unter den FFP2 Masken“ und „Weihnachten alleine macht vielen Angst“, er gibt den Zuschauern das Gefühl, dass alles wieder gut werden könnte, während er die Bevölkerung aber auch auf Corona als Alltag vorbereitet. Und Hausdurchsuchungen à la Lauterbach sind zwar eigentlich gegen die Grundrechte, aber wenn man zu Hause zu laut feiert, dürfe man sich nicht wundern, wenn die Polizei anklopft. So ganz vom Tisch ist das also auch nicht.

Ein wahrer Spagat, den er da hinlegt – aber nichts im Vergleich zu Habeck. Denn der ist akrobatisch in einer ganz anderen Liga. Er ist einerseits besorgt, über die „Unwuchten“, die Corona zwischen arm und reich treibt. Schließlich ist Quarantäne in der Villa schöner als zu fünft in einer kleinen Wohnung ohne Balkon. Trotzdem ist er bereit, keine Kosten zu sparen im Kampf gegen Corona. Ökonomie und Gesundheit stehen sich ja nicht gegenüber – schließlich leidet die Wirtschaft ja auch, wenn die Hälfte der Bevölkerung krank im Bett liegt.

Melanie Brinkmann scheint derweil jedes Mittel recht, im Kampf gegen die Pandemie, – außer der, die Gassen vorgeschlagen hat. Sie ist jedenfalls der festen Überzeugung, dass das Gesundheitswesen bereits kollabiert. Aber einen konkreten Vorschlag hat auch sie nicht. Das Motto zieht sich durch die ganze Sendung. Alle wägen nur ab, was am unsolidarischsten wäre, niemand hat einen Plan – bis auf Gassen, aber der darf ja nicht. Während sich der Rest auf gar nichts so wirklich festlegen lassen will, wird die Leitfrage der Folge bis zum Schluss nicht beantwortet. Und so ist der Zuschauer überrascht, als Maybrit Illner ihn plötzlich mit einem „Bleiben Sie gesund“ ins Bett verabschiedet.

Im Abspann sieht man, wie Hans nervös zum Wasserglas greift. Er muss wohl die ganze Show über Angst gehabt haben, etwas Falsches oder gar Unsolidarisches zu sagen. Währenddessen diskutieren Gassen und Brinkmann schon wieder. Sie wirkt wieder vorwurfsvoll, er ist in der Abwehrhaltung. Laute Rockmusik ist allerdings das Einzige, was zu hören ist, und so werden wir wohl nie erfahren, ob Andreas Gassen doch wenigstens einmal aussprechen durfte.

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