Tichys Einblick
Bundesverfassungsgericht schweigt laut

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags: Keine Rechtsgrundlage für Merkels Grenzöffnung

Merkels eigenmächtige Grenzöffnung war und ist rechtswidrig. Das dürfte für die meisten Leser nicht wirklich überraschend sein. Aber ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes ist ein Datum.

© Luis Acosta/AFP/Getty Images

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages kann für die Genehmigung der Einreise von Asylbewerbern ab September 2015 durch die Bundesregierung keine Rechtsgrundlage erkennen. Das berichtet zwei Tage vor der Bundestagswahl 2017 die Zeitung Die Welt (siehe hier). Leider wird das Gutachten den Bürgern vorenthalten und ist (bisher) nicht veröffentlicht. Laut Welt wird in dem Gutachten bemängelt, dass die Bundesregierung keine Angaben über die rechtlichen Grundlagen ihrer Entscheidung gemacht habe, obwohl die aus einem sicheren Drittstaat kommenden „Flüchtlinge“ an der Grenze hätten abgewiesen werden müssen. Solche Angaben wird es seitens der Bundesregierung wohl auch nicht geben – mangels Existenz einer solchen Rechtsgrundlage. Da sich Rechtsgrundlagen üblicherweise nicht verstecken, darf man wohl annehmen, dass die Juristen des Wissenschaftlichen Dienstes wie auch zahllose andere Juristen vor ihnen die Rechtsgrundlage gefunden hätten, gäbe es sie.

Kurz gesagt: Merkels eigenmächtige Grenzöffnung war und ist rechtswidrig. Das dürfte für die meisten Leser nicht wirklich überraschend sein.

Interessanterweise geht laut Welt das Gutachten auch auf die Frage ein, ob das Parlament über die Grenzöffnung hätte entscheiden müssen. Aufgrund der Wesentlichkeitslehre und des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips sei der Gesetzgeber verpflichtet, „in grundlegenden normativen Bereichen … alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“, heißt es im Gutachten. Nicht explizit beantwortet wird im Gutachten die Frage, ob die Massenaufnahme der „Flüchtlinge” eine „wesentliche“ Entscheidung war. Stattdessen verweist das Gutachten auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug. Demnach obliegt es der Entscheidung der Legislative, ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird. Die Massenzuwanderung ist also eine dem Parlament obliegende Entscheidung. Daran kann es auch keinen ernstlichen Zweifel geben. Nichts berührt das gesellschaftliche Zusammenleben mehr, als eine deutliche Veränderung der Bevölkerungsstruktur.

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Trotz der naheliegenden Verletzung des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips und der Wesentlichkeit der Frage der Massenzuwanderung lehnte das Bundesverfassungsgericht es ab, sich damit juristisch auseinanderzusetzen. Die Bundestagsabgeordneten waren nicht gewillt, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Und die Verfassungsbeschwerden von Bürgern nahm das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Auch der Autor hatte bereits im September 2015 – erfolglos – eine solche Verfassungsbeschwerde gegen die Grenzöffnung erhoben, andere taten es einige Zeit später ebenfalls erfolglos. Jetzt weiß jeder Jurist, dass die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden eine unmittelbare persönliche Betroffenheit voraussetzt. Nach der Rechtsprechung ist eine solche persönliche Betroffenheit nicht nur gegeben, wenn man direkt durch eine fehlerhafte Behörden- oder Gerichtsentscheidung (zum Beispiel eine Zwangsmaßnahme) berührt ist, sondern auch bei einer Beeinträchtigung des Rechts auf demokratische Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich insbesondere im Zusammenhang mit der Übertragung vom Kompetenzen auf die EU ein grundrechtsgleiches Recht aus Artikel 38 des Grundgesetzes (dort ist das Wahlrecht festgelegt) entwickelt, das den Anspruch auf demokratische Mitbestimmung und auf Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt konkretisiert. Der einzelne Bürger konnte sich auf dieses Recht berufen und beispielsweise die vom Bundestag beschlossene Übertragung von Kompetenzen auf die EU rügen. Dem mag letztlich nur mäßiger Erfolg beschieden gewesen sein, aber es fand eine intensive juristische Auseinandersetzung über das Pro und Contra statt, und das Bundesverfassungsgericht zog gewisse Grenzen gegen eine übermäßige Aushöhlung der Kompetenzen des Bundestags. Und um wie viel mehr berührt die unkontrollierte Massenzuwanderung die kulturelle und ökonomische Zukunft jedes einzelnen Bürgers im Vergleich zu der Übertragung von Kompetenzen an die EU, die notfalls rückholbar sind (sei es im Verhandlungswege, sei es durch einen Exit), und um wie viel mehr wird der Bürger in seinem demokratischen Teilhaberecht beeinträchtigt, wenn die Regierung das Parlament  in solch wesentlicher Frage übergeht.
Bundesverfassungsgericht schweigt laut

Wenn das Bundesverfassungsgericht die mit ausdrücklicher Zustimmung des vom Volk gewählten Parlaments vorgenommene, also formal rechtmäßige Übertragung vom Kompetenzen als rügefähig ansieht, dann müsste also erst recht die rechtswidrige Selbstaneignung von Kompetenzen durch die Bundesregierung unter Umgehung des Parlaments im Zuge der seit September 2015 andauernden Grenzöffnung rügefähig sein. Man fragt sich, was das Wahlrecht zum Bundestag eigentlich noch wert ist, wenn das gewählte Parlament durch solche eigenmächtigen und gesetzlich nicht vorgesehenen Maßnahmen in wesentlichen Fragen übergangen werden kann.

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Auch wenn wohl niemand so naiv war anzunehmen, dass das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung ernsthaft in die Parade fahren würde, so hätte sich das Gericht inhaltlich mit der Grenzöffnung beschäftigen und dem gesetzwidrigen Handeln der Bundesregierung zumindest für die Zukunft eine gewisse Grenze ziehen können. Doch es hat sich einen „schlanken Fuß gemacht“ und sich vor einer juristischen Stellungnahme zur unkontrollierten Massenzuwanderung gedrückt.

Bezeichnenderweise erfolgte die Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde unter Vorsitz des früheren CDU/CSU-Politikers Peter Huber. Ausgerechnet dieser Richter Huber beklagte am 30.09.2015, also nur wenige Tage nach der Grenzöffnung, in der FAZ (siehe hier) ein Schwächeln der Demokratie und die zunehmende Machtlosigkeit der Abgeordneten gegenüber der Regierung und kritisierte überdies, dass sich die Fälle häuften, in denen sich die Politik über das Recht hinwegsetze. Recht hat er, der Huber, aber juristische Gegenwehr bei ihm und seinen Richterkollegen Fehlanzeige.

Nachtrag 1

Mittlerweile ist das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes einsehbar (siehe hier). Seit wann es dort für alle zugänglich ist, ist unklar. Die Welt schrieb in ihrem heutigen Artikel: „Wenige Tage vor der Bundestagswahl sorgt ein Gutachten zur Flüchtlingskrise für Aufregung … Das Gutachten liegt der Welt vor.“ Die Welt erweckte damit zumindest den Eindruck eines neuen, bisher nicht veröffentlichten Dokuments. Auch andere Medien wie der Spiegel berichten über das Gutachten nur unter Hinweis auf den Welt-Artikel (siehe zum Beispiel der Spiegel hier), nicht aber unter Bezugnahme auf die Primärquelle, also das Gutachten selbst.

Möglicherweise ist das Gutachten aber keine solche Neuigkeit. Auf der Internetseite des  Wissenschaftlichen Dienstes ist das Gutachten als pdf-Dokument mit dem Veröffentlichungsdatum 24.05.2017 online gestellt. Dieses Datum ist allerdings auch fraglich, denn laut den Eigenschaften des pdf-Dokuments wurde es erst am 30.05.2017 erstellt. Insofern stellt sich die Frage, ob das Gutachten schon seit längerem in den Tiefen des Internets vorhanden ist und die Welt es als erste daraus hervorgeholt hat (das sollte dann allen Journalisten zu denken geben) oder ob der Bundestag es erst heute veröffentlicht hat, aber unter dem Datum 24.05.2017.

Nachtrag 2
Laut Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags ist das Gutachten Ende Juli 2017 (das genaue Datum wurde nicht mitgeteilt) im Internet veröffentlicht worden. Unklar bleibt, warum dies rückwirkend unter dem Veröffentlichungsdatum 24.05.2017 erfolgte. Denn selbst wer sich regelmäßig über die aktuellen Dokumente des Wiss. Dienstes informierte, konnte somit nicht auf das Gutachten aufmerksam werden.
Die WELT-Redaktion antwortete nicht auf die Anfrage, ob ihr bekannt gewesen ist, dass das Gutachten bereits veröffentlicht war.