Tichys Einblick
Das bittere Ende der SPD

Warum unsere Parteienlandschaft zerbricht – und was nachwachsen wird

Die herkömmlichen Einteilungen nach links und rechts verlieren immer mehr an Bedeutung. Es entstehen ein neues „oben“ und ein neues „unten“. Dabei ist der grüne Bereich von „oben“ besetzt; die politischen, sozialen und kulturellen Kosten gehen zu Lasten derer da „unten“. Hier zeichnen sich neue Bruchlinien der kommenden politischen Auseinandersetzungen ab.

Zweieinhalb Monate nach der Bremer Bürgerschaftswahl haben die Landes- und Fraktionsvorsitzenden von SPD, Grünen und Linken am Dienstag, 13. August 2019, ihren rund 140-seitigen Koalitionsvertrag unterschrieben.

imago images / Eckhard Stengel

Was wir zur Zeit erleben und was in den kommenden Wahlen im Osten manifest werden dürfte, ist der politische Absturz der stolzen Traditionspartei SPD. Was auch immer die eigene politische Überzeugung sein mag, der Niedergang der SPD ist ein schwerer Verlust für die Demokratie hierzulande und die Stabilität unserer rechts- und sozialstaatlichen Ordnung. Die Ursache ist, kurz und klar gesagt, die Übernahme der SPD durch ihre Funktionäre. Das natürliche Ergebnis dieser Übernahme ist, dass die SPD die Interessen und Ansichten ihrer Funktionäre vertritt, nicht die ihrer Wähler. Das kann im Einzelfall übereinstimmen, so bei vielen – nicht allen – sozialen Themen, aber es kann auch extrem auseinander klaffen, wie bei der Migration sowie der inneren und äußeren Sicherheit. Das Resultat ist jedenfalls ein Vertrauensverlust und der daraus folgende politische Abstieg.

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Die derzeit zu beobachtende Selbstnekrotisierung der SPD beschränkt sich keinesfalls auf diese Partei. Andere Entwicklungen führten in einer Reihe von wichtigen europäischen Ländern, darunter Frankreich und Italien, bereits vor einigen Jahren zum Absterben der nach dem Krieg jahrzehntelang dominierenden Parteienstrukturen, von den Kommunisten über die Sozialisten bis zu den Christlichen Demokraten und den gemäßigten Rechten. Umbenannt und auch sonst geliftet sind gewisse Parteien der äußersten Rechten, so in Frankreich unter Marine Le Pen.

Vorzugsweise unter dem Begriff der „Bewegung“ und nicht mehr mit dem angestaubt wirkenden Etikett „Partei“ betraten stattdessen neue politischen Formationen die politische Bühne, so Macrons „La République en Marche“ oder vor ihr noch die italienischen „Fünf Sterne“ bzw. „Lega Nord“. Ihr Merkmal ist, dass sie nicht von einem Funktionärskorps kontrolliert werden wie beispielsweise die SPD, sondern auf einer direkten und unmittelbaren Beziehung zwischen einer charismatischen Führungspersönlichkeit und ihren Wählern aufbauen.

Ihr zweites Merkmal ist, dass sie ebenso konsequent auf einer Willensbildung von unten nach oben bestehen – oder jedenfalls vorgeben. Der Mann an der Spitze präsentiert sich stets und unbedingt als Vollstrecker dessen, was seine Anhänger sagen und wollen. Er moderiert die Themen und spitzt sie gerne zu, aber vermeidet jegliche Überraschungen, geschweige denn Überrumpelung seiner Anhänger. Das hört sich zwar banal an – der Blick auf die CDU/CSU unter Kanzlerin Merkel macht jedoch deutlich, dass dies keinesfalls der Fall sein muss.

Diese Feststellungen lassen sich leidenschaftslos treffen. Man stelle sich vor, um nur zwei bekannte Kontroversen zu nennen, dass die mehr oder weniger einsam, sogar gegen den Rat der Fachleute getroffenen Entscheidungen der Bundeskanzlerin bei Themen wie dem schnellstmöglichen Ausstieg aus der Kernenergie und der Öffnung für eine weitgehend unkontrollierte Massenimmigration richtig waren. So damals der nahezu einhellige Beifall in Politik und Presse.

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Eine neue politische Konstellation entsteht
Wenn der Atomausstieg aber „unten“ auf einen extrem hohen Strompreis für Otto Normalverbraucher hinausläuft, auf Probleme beim Landschaftsverbrauch, beim Ferntrassenbau und vielen anderen öffentlichen Investitionen, bei der betroffenen Flora und Fauna und bei der Versorgungssicherheit, sieht das alles bald anders aus. Und wenn bei der Migration eine Plethora von ungelösten Problemen die Folge sind, von den Wohnungen über die Schulen bis zu den Sozialbudgets, dazu dem sich ausbreitenden Gefühl der Überfremdung und vor allem bei der öffentlichen Sicherheit, dann gibt es einen ebenso heftigen politischen Rückstoß von „unten“ nach „oben“ und bald auch die politische Quittung.

Zurück zum Ausgangspunkt: Bei uns stirbt zur Zeit gerade die SPD. Ihr Ende als einflussreiche politische Kraft erscheint unvermeidlich, weil sie zu einer grundlegenden Transformation ihres inneren Gefüges und darunter vor allem zu einem Abschied von der Struktur einer Funktionärspartei nicht in der Lage ist. Es bedeutet für sie eine politische Zukunft im einstelligen Bereich.

Das ist bemerkenswert, weil die ebenfalls traditionsreiche Sozialdemokratie des kleinen Nachbarlandes Dänemark gerade vorgemacht hat, dass und wie ein Wiederaufschwung erfolgreich geht: nämlich mit einem Ruck nach links in den sozialen Fragen und einem Ruck nach rechts bei Themen der Sicherheit und Migration. So etwas geht mit der SPD nicht. In der gegenwärtigen Situation wäre es, als würde man ihr nach dem Dolch noch den Giftbecher reichen.

Die Erschütterung des herkömmlichen Parteiensystems hat jedoch nicht nur eine deutsche Dimension. In Frankreich und Italien ist die Entwicklung weg von den traditionellen Parteien bereits seit einigen Jahren vollzogen. Was das Vereinigte Königreich betrifft, so bleibt zu beobachten, ob der Kampf um den Brexit nicht noch eine politische Trümmerlandschaft hinterlässt. Auch in der politischen Architektur der USA knistert es im Gebälk. Die Präsidentschaft Trumps hat bereits einiges an den aufgezeigten Entwicklungen vorweggenommen.

Übergreifend betrachtet, hängen diese Entwicklungen wahrscheinlich mit dem Entstehen einer internationalen urbanen Eliteschicht zusammen, die ihre eigene Agenda verfolgt und wenig mit den Stammwählern und den Ursprungsmilieus der ihrem Untergang entgegen treibenden klassischen Parteien zu tun hat, wohl aber deren Aufsteiger an sich zieht. Die Parteien selbst lösen sich auf oder versinken in der Bedeutungslosigkeit.

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Die angestammten Milieus verschwinden aber nicht, sondern werden von den neuartigen politischen Formationen der „Bewegungen“ aufgesogen. Die herkömmlichen Einteilungen nach links und rechts verlieren dabei immer mehr an Bedeutung. Es entstehen ein neues „oben“ und ein neues „unten“. Dabei ist der grüne Bereich von „oben“ besetzt; die politischen, sozialen und vielleicht auch kulturellen Kosten gehen zu Lasten derer da „unten“. Hier zeichnen sich neue Bruchlinien der kommenden politischen Auseinandersetzungen ab.

Nicht in dieses Schema einzuordnen ist die Entwicklung in den USA unter Präsident Donald Trump. Dort geht es nicht um Grün oder Nichtgrün als Epiphete für „oben“ und „unten“, sondern im Kern um ein Aufbegehren der kleinen Leute, der Vergessenen, Verlierer und Zukurzgekommenen, gegen die liberale Elite. Eine Überlagerung beider politischer Kraftlinien könnte allerdings bei uns in Europa einmal ungeahnte Sprengkraft besitzen.

Die zweite wichtige Entwicklung besteht in der Zerfaserung des politischen Systems. Die politische Öffentlichkeit hat die Züge eines immerwährenden Plebiszits angenommen. Eine breite Palette von Nichtregierungsorganisationen, Instituten und Verbänden konkurrieren ohne Unterlass um die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit. Mitunter werden sie nicht nur von den hinter ihnen stehenden Interessenverbänden finanziell alimentiert, sondern auch aus öffentlichen Mitteln von denjenigen Ressorts, welche ihre Ziele im Kabinett und dann in der Öffentlichkeit erst noch durchsetzen möchten.

Fragen über Fragen
Die schlechte Regierung abwählen - egal wie?
Die Regierung setzt in diesem Szenario keine Themen mehr, sondern springt auf Themen, die sich als zugkräftig erwiesen haben. Das sind zur Zeit mit Abstand das Klima und andere grüne Themen. Ein anderes Mal könnten es andere sein, so wie in der Vergangenheit Waldsterben, Vogelgrippe, Rinderseuche BSE und ähnliche Themen bereits ihre Rolle als apokalyptische Schlagzeilenmacher gespielt haben. Die grünen Themen werden sich freilich als dauerhafter erweisen, worauf die großen Regierungsparteien in Berlin bereits mit einem Wettlauf um die Wortführerschaft reagiert haben.

Durch Mitarbeit der regierungsfreundlichen Presse und Fernsehanstalten gelingt es der Regierung und ihren Freunden zugleich, die Öffentlichkeit von politisch empfindlichen Themen wie etwa der Migration abzulenken und die von ihr gewünschte Agenda, etwa im Umweltbereich, zu setzen. Eine weitere Taktik besteht dabei, den politischen Gegner von der Wahrnehmung auszuschließen. Wer nicht stattfindet, den gibt es auch nicht.

Hinzu kommt: die öffentliche politische Auseinandersetzung hat sich unterdessen vom Parlament in die Talk Shows verlagert. Auch hier bietet die Auswahl von Themen und Gästen mancherlei Möglichkeiten. Die Regierung hat auch sonst ihr Handwerk gelernt. Gilt es eine unpopuläre Entscheidung durchzusetzen, so gründet man flugs eine Kommission, die – mit geschickter, weil gut informierter Hand zusammengesetzt -, bald das gewünschte Ergebnis liefert, dem man auf Seiten der Regierung sodann achselzuckend und voll Sympathie und Verständnis für die Verlierer nachgeben kann. Es war eben, der Kommissionsbericht belegt es ja, alternativlos.

Vorwärts zur Republik
Berufspolitik setzt Demokratie außer Kraft
Ein bemerkenswerter Schachzug gelang dabei der vormaligen Rot-Grünen Koalition unter Schröder und Trittin, als sie bestimmte Nichtregierungsorganisationen wie die Deutsche Umwelthilfe mit Klagebefugnis für umweltrelevante Grenzwerte ausstattete, die anschließend zu Gerichtsurteilen führen mussten, auf die man in Politik und Öffentlichkeit dann mit allen Anzeichen der Betroffenheit reagieren konnte. Experten und Gerichte hatten der Regierung derart die politische Kärrnerarbeit abgenommen und Ziele realisiert, die in der offenen politischen Arena nicht durchsetzbar gewesen wären. Billiardfreunde nennen das „par la bande“ gespielt – übers Eck und treffsicher.

Fazit des Gesagten ist: die SPD ist auf dem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit, weil sie die Ansichten und Ziele ihres Funktionärskorps widerspiegelt und nicht die ihrer Wähler. Es ist nicht ausgeschlossen, dass CDU/CSU dem Niedergang der SPD folgen, sofern ihnen nicht noch eine Wiederherstellung einer Willensbildung von unten nach oben gelingt. Im Aufwind in Europa befinden sich politische „Bewegungen“, die vielerorts bereits das Erbe der herkömmlichen Parteiensysteme angetreten haben. Zugleich verschärft sich der Gegensatz zwischen einer internationalen urbanen Elite und den klassischen politischen Milieus am unteren Ende der Skala. Das politische System zerfasert sich. Neue Bruchlinien rund um das Thema „Grün“ zeichnen sich ab.

Uwe Schramm, geboren 1941 in Bremen, ist ein deutscher Diplomat und war Botschafter in Ruanda, den Vereinten Arabischen Emiraten, Bangladesch und Georgien. Nach seiner Pensionierung war der studierte Rechts- und Staatswissenschaftler 2008/2009 Mitglied der EU-Berichtskommission zum Konflikt 2008 zwischen Georgien und Russland; 2014/2015 arbeitete er als politischer Berater der OZE-Sonderbeauftragten für den Ukraine-Konflikt in der Trilateralen Kontaktgruppe mit Russland und der Ukraine in Kiew. Er lebt in Berlin.

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