Tichys Einblick
Kein Ministerpräsident für 70 Tage

Verfassungsrechtler Murswiek: „Antidemokratisches Vorgehen in den Parlamenten“

Der Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek sieht ein erhebliches Problem für die Demokratie, wenn durch das Abstimmungskartell der Parteien nur noch "linke" Gesetzesbeschlüsse möglich sind. Auch ARD und ZDF seien zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet.

imago Images | Prof. Murswiek
TE: In NRW hat die SPD-Landtagsfraktion einen Antrag eingebracht, wonach kein Gesetz verabschiedet werden dürfe, dem die AfD zustimmt. Wie beurteilen Sie diesen Vorgang?

Murswiek: Auch wenn das nur gelten soll, sofern es bei dem jeweiligen Gesetz auf die Stimmen der AfD ankam: Ein solcher Beschluss wäre unvereinbar mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie. Natürlich könnte er keinerlei rechtlich verbindliche Wirkung entfalten. Aber auch als bloße Empfehlung richtet er sich gegen das freie Mandat der Abgeordneten, gegen das demokratische Gleichheitsprinzip und auch gegen das Mehrheitsprinzip. Er wendet sich gegen die Offenheit des parlamentarischen Willensbildungsprozesses und läuft der Sache nach darauf hinaus, dass nicht mehr gilt „Mehrheit ist Mehrheit“, sondern dass es nur noch linke Mehrheiten geben darf. Wenn die AfD eine entsprechende Forderung erhöbe und nur noch rechte Mehrheiten für legitim hielte, wäre das für den Verfassungsschutz ein Beleg für „Bestrebungen gegen das Demokratieprinzip“, also ein Anhaltspunkt für Verfassungsfeindlichkeit.

TE: Wie beurteilen Sie die politische Forderung der LINKEN, Bodo Ramelow im 1. Wahlgang und unter Durchbrechen des Gebots der geheimen Abstimmung zu wählen? Wäre so ein Vorgehen überhaupt möglich?

Murswiek: Sollte tatsächlich die Forderung erhoben worden sein, den Ministerpräsidenten in offener Abstimmung zu wählen, wäre dies verfassungswidrig. Die Thüringer Verfassung schreibt für die Wahl des Ministerpräsidenten die geheime Wahl verbindlich vor (Artikel 70 Absatz 3).

TE: Kann man, wie beispielsweise mit Frau Lieberknecht von der Linken vorgeschlagen, einen Ministerpräsidenten „auf Zeit“ wählen?

Murswiek: Die Verfassung sieht vor, dass der Ministerpräsident grundsätzlich für die Legislaturperiode des Landtags gewählt wird. Rechtlich ist es nicht möglich, eine kürzere Amtszeit von vornherein festzulegen. Dies schließt aber nicht aus, dass die Fraktionen zur Bewältigung einer Krise politisch vereinbaren, eine Übergangsregierung einzusetzen, die nur bestimmte Aufgaben erledigen und Neuwahlen vorbereiten soll. Verfassungsrechtlich hätte diese Übergangsregierung aber denselben Status wie jede „normale“ Regierung. Das heißt, ihre Amtszeit wäre rechtlich nicht von vornherein begrenzt, sondern könnte vor Ablauf der Legislaturperiode nur in derselben Weise beendet werden, wie auch bei „normalen“ Regierungen. Dafür gibt es in Thüringen drei Möglichkeiten: 1. Der Ministerpräsident müsste die Vertrauensfrage stellen, und das Parlament müsste diese ablehnen. Er kann aber nicht gezwungen werden, die Vertrauensfrage zu stellen. 2. Die Regierung kann durch konstruktives Misstrauensvotum, also Neuwahl eines anderen Ministerpräsidenten gestürzt werden. 3. Das Parlament kann mit Zwei-Drittel-Mehrheit Neuwahlen beschließen.

TE: Die Bundeskanzlerin hat auf Staatsbesuch in Südafrika zur Wahl des FDP-Kandidaten Kemmerich mit Stimmen von FDP, CDU und AfD folgende Aussage gemacht: „Man muss sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss.“ Wie beurteilen Sie diese Art Erklärung aus verfassungsrechtlicher Sicht?

Murswiek: Die Bundeskanzlerin hat diese Aussage auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten gemacht. Sie ist dort also als Kanzlerin und nicht als Parteipolitikerin aufgetreten, auch wenn sie in ihrem Statement ausdrücklich die Auffassung der CDU vertreten hat. Deshalb meine ich, dass sie mit dieser Aussage ihre Kompetenzen als Kanzlerin eindeutig überschritten hat. Sie darf sich als Bundeskanzlerin nicht einmischen in die Regierungsbildung auf der Ebene der Länder.

TE: Steht die zitierte Aussage der Kanzlerin im Widerspruch zum Demokratieprinzip des Grundgesetzes, und berührt sie die verfassungsrechtliche Unabhängigkeit der Abgeordneten des Landtages des Freistaates Thüringen? Auch nach Artikel 53, Absatz 1, Satz 2 der Verfassung des Freistaats Thüringen sind die Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Murswiek: Zum Demokratieprinzip steht sie nicht im Widerspruch, weil es ja Sache der Politiker in Thüringen bleibt, bei ihrer Entscheidung zu bleiben oder sie zu revidieren. Es gibt keinen rechtlichen Zwang von Seiten der Kanzlerin. Wenn allerdings ein so massiver Druck aufgebaut wird, wie wir das im Zusammenspiel vieler Bundespolitiker erlebt haben, mit der Verwendung eines Vokabulars, das jedenfalls moralisch keine freie Entscheidung mehr zulässt („Schande“), und noch der Druck der Straße nicht nur mit Beschimpfungen, sondern auch mit handfesten Bedrohungen hinzukommt, ist das freie Mandat der Abgeordneten in Gefahr.

TE: Nun ist aus der FDP ist zu hören, Merkel habe den Rücktritt Kemmerichs mit der Drohung erzwungen, ansonsten sämtliche Landesregierungen beenden zu wollen, an denen CDU und Liberale beteiligt seien. Wenn das zutrifft, wie kommentieren Sie dies aus verfassungsrechtlicher Sicht?

Murswiek: Hätte Merkel diese Äußerungen als CDU-Politikerin – nicht als Kanzlerin – gemacht, wäre das verfassungsrechtlich unproblematisch. Jede Partei kann entscheiden, mit welchen anderen Parteien sie koalieren will und aus welchen Gründen sie Koalitionen beendet. Da Frau Merkel aber gar nicht mehr Vorsitzende der CDU ist, kann man sich natürlich die Frage stellen, wie sie dazu kommt, eine solche Äußerung zu machen. Das hätte sie der CDU-Vorsitzenden überlassen müssen. Da Merkel ihre Autorität nur aus ihrer Stellung als Kanzlerin bezieht, muss man annehmen, dass sie als Kanzlerin gesprochen und insofern wiederum ihre Kompetenz überschritten hat.

TE: Hat die Kanzlerin gegen den Paragrafen 105 des Strafgesetzbuches verstossen, wonach die Nötigung von Staatsorganen verboten sei?

Murswiek: Das ist nicht so. Merkel hat hier politischen Druck ausgeübt, aber das ist nicht strafbar.

TE: Generell ist die Forderung zu hören, AfD-Abgeordnete dergestalt aus der parlamentarischen Willensbildung auszuschließen, dass von ihr unterstützte Gesetze deshalb von der Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt werden?

Murswiek: Verfassungsrechtlich haben die gewählten Abgeordneten gleiche Rechte, ganz egal, welcher Partei sie angehören. Wenn die anderen Parteien allerdings mit der AfD nicht koalieren wollen, dann ist das eine politische Entscheidung. Dagegen ist verfassungsrechtlich nichts einzuwenden. Was ich aber verfassungsrechtlich für höchst problematisch halte, ist, dass man die Stimmen, die von AfD-Abgeordneten im Parlament abgegeben werden, als sozusagen kontaminiert betrachtet und dann die Auffassung vertritt, eine Entscheidung, die mit Hilfe der Stimmen der AfD getroffen worden ist, dürfe keinen Bestand haben. Das ist gegen den Geist der parlamentarischen Demokratie und das wirkt tendenziell zerstörerisch auf ihr System. In der Konsequenz bedeutet das ja, dass in Thüringen CDU und FDP keine von ihnen für richtig und vernünftig gehaltenen Gesetze mehr durchsetzen können, wenn die Linksparteien dagegen stimmen, obwohl die Parlamentsmehrheit mit den Stimmen der AfD für diese Gesetze ist. Mit anderen Worten: Es wird nur noch «linke» Gesetze geben können, obwohl es im Parlament eine «nichtlinke» Mehrheit gibt.

TE: Aber ist das nicht die Absicht der Kampagne gegen die AfD? Wenn die Stimmen der AfD-Parlamentarier generell ausgegrenzt werden, also im parlamentarischen Verfahren dauerhaft „neutralisiert“ werden, dann gewinnt damit der linke Teil des Parlaments die Mehrheit – und CDU wie FDP betreiben damit sogar ihre eigene Marginalisierung oder zumindest Schwächung?

Murswiek: Ja, so ist es. Die Verfassung verbietet es den Parteien freilich nicht, sich selbst zu schwächen und darauf zu verzichten, ihre eigene politische Agenda durchzusetzen, obwohl die parlamentarische Mehrheit dafür vorhanden wäre. Eine generelle Festlegung, die Stimmen einer bestimmten Fraktion unabhängig vom Inhalt – also auch dann, wenn es gar nicht um spezifische politische Anliegen der geächteten Fraktion, sondern auch, wenn es um Anliegen anderer Fraktionen geht – als unbeachtlich und für die parlamentarische Mehrheitsbildung unverwendbar zu betrachten, ist tendeziell geeignet, die parlamentarische Demokratie zu zerstören oder zumindest schwer zu schädigen. Denn die Demokratie lebt davon, dass es Alternativen gibt, zwischen denen die Wähler entscheiden können, und dass die Wähler mit ihrer Stimme auf die bisherige Politik reagieren können. Diese Offenheit des demokratischen Prozesses muss sich im Parlament widerspiegeln. Wenn aber die Wähler wählen können, wen sie wollen, und das hat letztlich keinen Einfluss auf die Gesetzgebung mehr, weil im Parlament wegen struktueller Vorfestlegungen der ein Abstimmungskartell bildenden Fraktionen immer nur „linke“ Gesetzesbeschlüsse herauskommen, auch wenn das Wahlergebnis zu einer Mehrheit „nichtlinker“ Parteien im Parlament geführt hat, dann haben wir ein massives Problem für die Demokratie.

TE: Trifft das auch auf die LINKE zu, wobei eine derartige Ausgrenzung bislang nicht der Fall war, sondern nur die Absage der Union an Regierungs-Koalitionen mit ihr auf Bundes- und Landesebene.

Murswiek: Ein gegen die LINKE gerichtetes Abstimmungskartell wäre genauso undemokratisch. Aber wie Sie sagen, gibt es das ja nicht. Die Vorfestlegung der Parteien, mit einer bestimmten anderen Partei keine Regierung bilden zu wollen, ist anders zu beurteilen, als die Vorfestlegung, kein Gesetz beschließen zu wollen, das nur mit den Stimmen einer bestimmten anderen Partei zustande kommt. In einem System, in dem Regierungen regelmäßig nur als Koalitionsregierungen gebildet werden können, müssen die Parteien den Wählern vor der Wahl sagen, mit welcher Partei oder welchen Parteien sie eine Regierung anstreben, mit welcher Partei oder welchen Parteien möglichst nicht und mit welcher Partei oder welchen Parteien auf keinen Fall. Und dann ist es ein Gebot der Glaubwürdigkeit, sich nach der Wahl auch an diese Ankündigung zu halten.

TE: Kevin Kühnert, stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, sagte in der Diskussionsrunde «Anne Will» an die Adresse der AfD: „Sie haben Abgeordnete im thüringischen Landtag für ihre Partei. Das ist es, was sie garantiert haben in einer parlamentarischen Demokratie, mehr nicht.“ Was sagen Sie dazu?

Murswiek: Das ist vollkommen falsch und antidemokratisch. Auch die AfD-Abgeordneten haben das Recht, sich in gleichem Umfang an allen Entscheidungen, die im Parlament getroffen werden, zu beteiligen. Aber es gibt kein Recht, an einer Regierungsbildung beteiligt zu werden. An einer Regierung kann man in Deutschland nur beteiligt werden, wenn man entweder selbst die absolute Mehrheit im Parlament hat – das hat die AfD ja nicht. Oder wenn man Koalitionspartner findet, mit welchen man gemeinsam eine Regierung bildet. Wenn die anderen Parteien alle sagen, mit der AfD wollen wir keine Regierung bilden, dann ist das weder verfassungswidrig noch undemokratisch.

TE: Die Attacken auf die AfD wirken immer extremer. Die Partei wird täglich von Politik und Medien als nazistisch, faschistisch, rassistisch, rechtsextrem bezeichnet. Sind diese Anfeindungen berechtigt?

Murswiek: Das sind geradezu verhetzende Beschimpfungen, die von der Wirklichkeit nicht gedeckt sind. Natürlich ist die AfD keine Nazi-Partei. Sie ist auch nicht rechtsextrem. Der Verfassungsschutz in Deutschland hat ja ein Auge auf die Partei geworfen und geprüft, ob sie extremistisch sei. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat letztes Jahr ein umfangreiches Gutachten über die AfD vorgelegt, das – durch ein Leak – auch im Internet veröffentlicht worden ist. Daraus ergibt sich: Nach der Einschätzung des Verfassungsschutzes kann die AfD – für den Zeitraum der Prüfung – nicht als extremistisch eingeordnet werden. Es habe lediglich einige, wie sich der Verfassungsschutz ausdrückte, «Verdachtssplitter» gegeben dafür, dass es in der AfD verfassungsfeindliche, extremistische Tendenzen gibt. Und deshalb hat man die Partei zum sogenannten Prüf-Fall gemacht. Doch bis dato gibt es keine Erkenntnisse, dass die AfD als Gesamtpartei tatsächlich extremistische, antidemokratische Tendenzen verfolgt. Es gibt freilich Personen in der AfD, die man als Extremisten ansehen kann und von denen die Partei sich trennen muss. Und es gibt auch immer wieder Äußerungen, die sich skandalisieren lassen.

TE: Stimmt es, dass die Partei Die Linke bis 2013 als Ganzes vom Staatsschutz beobachtet wurde?

Murswiek: Die Linke wurde als Gesamtpartei vom Bundesamt für Verfassungsschutz bis 2011 als extremistisch eingestuft, in Bayern noch bis 2012. Seither werden als Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes in den Verfassungsschutzberichten noch einige Untergliederungen dieser Partei genannt.
«Gegen den Geist der parlamentarischen Demokratie».

TE: Die ARD hat erklärt: „Wir bemühen uns, AfD-Vertretern kein Forum für ihre Zwecke zu bieten. Je nach Thema ist es aber von Fall zu Fall nötig, AfD-Politiker selbst zu Wort kommen zu lassen.“ Ist diese Grundhaltung mit der Forderung nach Binnenpluralität vereinbar, die als zentrales Element der öffentlich-rechtlichen Rundfunkverfassung gilt?“

Murswiek: Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben nach dem Rundfunkstaatsvertrag „bei der Erfüllung ihres Auftrags die Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.“ Sie sind deshalb auch zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet und müssen die vorhandenen Parteien entsprechend ihrer – insbesondere in den Wahlergebnissen zum Ausdruck kommenden – Bedeutung in der Berichterstattung und Programmgestaltung berücksichtigen. Damit verträgt es sich nicht, AfD-Politiker weniger zu Wort kommen zu lassen als Politiker anderer Parteien.


Verfassungsrechtler Murswiek

Dietrich Murswiek, 71, ist Rechtswissenschaftler. Bis zur Emeritierung 2016 war er Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Murswiek gehörte von 1972 bis 2015 der CDU an und berät Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion in staats- und völkerrechtlichen Fragen. Rechtsgutachten und Prozessvertretungen hat er auch für die Grünen, Die Linke, die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) und die AfD übernommen.

Teile des Interviews sind auch in der Weltwoche erschienen.


Im TE-Video mit Roland Tichy und Oswald Metzger spricht Murswiek über das mangelnde Demokratieverständnis der etablierten Parteien.