Tichys Einblick
WAHLRECHT ENTSCHEIDET DIE WAHL

SPD in Niedersachsen war ohnehin nur Zufallsgewinner

Das Wahlrecht ist eine vertrackt Sache: Die 1-Stimmen-Mehrheit von Rot-Grün war nur durch ein fragwürdiges Landeswahlgesetz zusammengekommen, das Direktmandate „ausgleicht“ und wegrechnet.

The picture of German politician Stephan Weil (SPD) is seen on an election poster next to a half torn one of the incumbent State Premier David McAllister the day after the elections in Hanover, northern Germany on January 21, 2013

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Die Landtagswahl vom 20.Januar 2013 war eine „Probeabstimmung“ für die nachfolgende Bundestagswahl am 22. September. Die CDU unter David McAllister kam in den Umfragen auf über 40 Prozent der Zweitstimmen und die FDP lag bei knapp 5 Prozent. David McAllister sprach sich damals zwar nicht für eine Leihstimmen-Aktion für die FDP aus, vermied es aber, sich dagegen zu wenden. Als Folge davon sank die CDU bei der Wahl auf 36 Prozent der Zweitstimmen ab. Die FDP schnellte dagegen auf 9 Prozent in die Höhe. Das genügte aber nicht für die Bildung einer gemeinsamen CDU/FDP-Landesregierung in Niedersachsen.

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Die Bundes-CDU erschrak, zog die falsche Konsequenz und sprach sich unter Angela strikt und ausdrücklich gegen eine „Leihstimmen-Aktion“ für die FDP auf Bundesebene aus. Als Folge davon sank das Stimmensplitting dramatisch ab und die FDP flog aus dem Bundestag. Das war der schwerste wahlstrategische Fehler der CDU-Vorsitzenden. Die Physikerin, Angela Merkel, hat die Mechanik der Wahl mit zwei Stimmen und ihren Möglichkeiten der Wahlhilfe auf Gegenseitigkeit nicht durchschaut. Und solange das als zulässig gilt, wäre es töricht und dumm, davon keinen Gebrauch zu machen. Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst.

Die Landes-CDU in Niedersachsen erlangte 2013 mit den Erststimmen ein Direktmandat mehr, als sie mit den Zweitstimmen Listenplätze erzielen konnte.  Diesem „Überhang“, der ja kein unzulässiges, Direktmandat, sondern eine Differenz ist, wird nach dem Landeswahlgesetz fälschlich die Legitimität abgesprochen. Die Differenz wird jedenfalls „ausgeglichen“, warum auch immer. Dabei werden die „Differenzmandate“, also der Abstand zwischen Direktmandaten und dahinter zurückbleibenden Listenplätzen verdoppelt, die Aufstockung den regulären Sitzen im Landtag hinzugefügt und danach unter Ausschluss der „Splitterparteien“ auf die privilegierten Landtagsparteien verteilt.

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Die Landes-CDU erhielt dabei selbst das eine, die Landes-SPD das andere „Aufstockungsmandat“, die wohlgemerkt beide ohne unmittelbares Zutun der Wähler entstanden sind. Bei der CDU fiel dadurch der „Überhang“ weg, bei der SPD entstand dagegen ein echtes Zusatzmandat. Und das genügte für die Mehrheit von einem Mandat von Rot-Grün. Im Ergebnis ist es eine Abwertung der Direktmandate: Die jeweiligen Gewinner eines Direktmandats kommen zwar ins Parlament, aber letztlich zählt nur jener Prozentsatz, der auf die jeweilige Partei entfällt. Gibt es mehr Direktmandate als Listenplätze, werden so lange nicht-gewählte Abgeordnete in die Parlamente  nachgeschoben, bis die Relation der Listen wieder sitzt.

Die CDU war durch diesen Verfahrensgewinn, der zu Gunsten der SPD ging, ausmanövriert worden. Das wurde jetzt durch den Fraktionsaustritt einer Grünen-Politikerin endlich beendet. Rot-Grün musste den ungerechtfertigten Verfahrensgewinn wieder abgeben. Man darf allerdings nicht unterschlagen, dass die Landes-CDU das Aufstockungsmandat behält.

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Was den Fraktionswechsel betrifft, ist er legitim. Verheugen ist von der FDP zur SPD gewechselt, Schilly kam von den Grünen zur SPD. Niemand aus den Reihen der SPD hat seiner Zeit protestiert. Die SPD argumentiert jedoch mit gespaltener Zunge: Gewinnt die SPD durch den Fraktionswechsel ein Mandat, ist das verfassungskonform, verliert der Koalitionspartner eines, dann ist die Hölle los, dann entdeckt die SPD die Gerechtigkeits- und Verfassungsfrage, spricht von „Verschwörung“ von „Betrug am Wähler“ etc. etc.

Man sieht daran aber auch, dass die Personenwahl im Grundgesetz den Vorrang vor der Parteienwahl hat: Fraktionswechsler dürfen ihr Mandat behalten. Es ist auch dann kein Besitzstand der Partei, wenn der Fraktionswechsler mit der Zweitstimme, also über die Liste der Partei gewählt wurde und in das Parlament einzog. Doch bei der Anwendung der Wahlgesetze von Ländern und Bund werden Direktmandate ausgeglichen bis zur Verzerrung des Ergebnisses.

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Man kann aus Niedersachsen viel lernen. Und nach der Wahl am 24. September 2017 erfahren wir über den Unfug der „Ausgleichsmandate“ vermutlich noch mehr. Auf einer Veranstaltung macht der bisherige Bundestagspräsident Norbert Lammert deutlich, dass ohne Reform der Bundestag bei 299 Wahlkreisen und Direktmandaten und insgesamt 598 Sitzen nach der kommenden Bundestagswahl auf bis zu 750 Abgeordnete aufgeblasen werden könnte.

Von Manfred Hettlage ist im Wissenschaftlichen Verlag Berlin eine Kritik des derzeitigen Wahlrechts mit den ausufernden Ausgleichmandaten erschienen: Wissenschaftlichen Verlag Berlin  „BWahlG – Gegenkommentar“.