Tichys Einblick
Ein allzu Wendiger

Sigmar Gabriel: SPD war in Flüchtlingspolitik „unpolitisch und naiv“.

Sigmar Gabriel nutzt sie nicht: Die Chance des von der Leiter Gefallenen, endlich einmal Klartext anzubieten.

© Getty Images

Für die Braunschweiger Zeitung sind das möglicherweise traurige Momente: Als Teil der Funke Mediengruppe ist sie auch Nachrichtenempfänger der Funke Zentralredaktion. Und so kommt es dann, dass, obwohl Sigmar Gabriel ein Gewächs der Region ist, ein Interview mit dem Gefallenen über die Zentrale den Redaktionen vom Rhein bis zu Elbe und Oker angeboten wird. Wer mag, greift halt zu. Nennen wir es wohlwollend: Exklusivität im größeren Rahmen.

Der neue Chefreporter dieser Zentralredaktion – andere Zeitungen wie die Süddeutsche gehen noch weiter, wenn sie sich bis hinüber zu den Öffentlich-Rechtlichen zentralisieren – der neue Chefreporter heißt Tim Braune und ist laut Stellenbeschreibung im Wesentlichen für die SPD und den sozialdemokratischen Bundespräsidenten zuständig. Das muss ein schwerer Job sein, sich hier nicht irgendwann parteiisch zu zeigen, wenn man immer nur ein und die selbe politische Klientel bespielt. Der Chef des Chefreporters lobt sogar dessen Vernetzungen innerhalb der SPD: „Mit Tim Braune bekommt das Politik-Ressort von Jochen Gaugele einen Kollegen, der in der Berliner Politikszene extrem gut vernetzt ist.“

Nun könnte es ja sein, dass Braune zu den unbestechlichen, zu den resistenten, zu den bissigen Kollegen gehört, dass er also auf irgendeine Weise gerade anachronistisch operiert, wenn er sich mit dem heute nur noch einfachen Bundestagsabgeordneten Sigmar Gabriel trifft, um mal Tacheles zu reden, wie das so ist, wenn die Karriere langsam ausläuft.

Spahn in der NZZ - Gabriel im Tagesspiegel
Sigmar Gabriel will das Ende der Wirklichkeitsverweigerung namens politische Korrektheit und konstatiert "Kontrollverlust des Staates"
Nur leider trifft das auf Braune kaum zu. Sein Stelldichein mit Gabriel im Garten der Berliner Parlamentarischen Gesellschaft liest sich wie ein Gespräch unter Freunden oder guten Bekannten. Der ersten Sätze reinstes Feuilleton: „Da sitzt er.“ Braune bemerkt dabei, dass die Vögel zwitschern und ein paar Soldaten vorbeischlendern und neugierig gucken. Aber Gabriels Telefon hätte in den eineinhalb Stunden nur noch einmal geklingelt.

Für den Chefreporter zartes Indiz der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Gegenübers. Ein beinahe halbseitiges Ganzkörperfoto zeigt Gabriel an den Sandstein des Reichstages gelehnt, ein Bein höher gestellt, die Finger fest ineinander verhakt wie ein Protestant beim Gebet, blauer Blazer, keine Krawatte, im Hintergrund grüner Rasen, davor ein trauriger Fernweh-Blick.

Verzockt
Sigmar Gabriel: Abschiedsworte eines Vertriebenen
Fernweh? Ja, der Artikel schließt ab mit einer Reiseerzählung, die auch die Überschrift des Artikels gesetzt hat: „Wohnmobil statt Weltpolitik“. Gabriel plant mit Tochter und Zahnärztin (Ehefrau) nach Schweden zu reisen, um zu angeln, Elche zu gucken und Köttbullar zu essen. Der schwedische Ministerpräsident, der Sozialdemokrat Stefan Löfven, wird irgendwann „dazustoßen“. Dann will man– Achtung, gleich kommt ein journalistischer Leckerbissen! – beim Kötbullar essen auf der Frage „herumkauen“, wie die europäische Sozialdemokratie noch zu retten ist.

Gabriel hat laut Funke Zentralredaktion schon Verträge mit der „Elite-Uni Harvard“ gemacht. Dort wird er dann also seine Köttbullar-Erkenntnisse in Vorlesungen zum Besten geben. Eine schöne Plauderei, die da über eine Seite präsentiert wird unter der Zwischenüberschrift: „Sigmar Gabriel tastet sich in sein neues Leben.“

Müssten wir nicht gleich noch berichten, wie sich der Ex-Vizekanzler und Außenminister Gabriel aus seiner Verantwortung an der Zuwanderungskrise stiehlt, wäre dieser Artikel das perfekte Bauchmuskeltraining oder würde mehr Mitleid als diese zarte Quantum Wut über den Unbelehrbaren generieren.

Der Wortbrecher
Schulz demonstriert an Gabriel, was er unter Solidarität versteht
Leider ist es aber so, Sigmar Gabriel nutzt sie nicht: Die Chance des von der Leiter Gefallenen, endlich einmal Klartext anzubieten. Der Minister, der sich einst auf der Regierungsbank den Refugees-Welcome-Button von Kai Diekmann und BILD ans Revier heftete, der gleiche Gabriel, der die Auffassung vertreten hat, dass 500.000 Flüchtlinge pro Jahr verkraftbar sind, als sein Appetit noch nicht künstlich verkleinert war, kennt keine Reue, keine Selbstkritik daran, was er mit seiner Kanzlerin über Deutschland gebracht hat. Als ginge es jetzt noch um etwas, etwa um Job und Würden, gibt er nur stur weiter den Unverbesserlichen, wenn er dem SPD-Spezialisten von Funke Mediengruppe ins Mikrofon spricht, das seine Idee eines großen Solidarpaktes, der Einheimischen die Angst vor Benachteiligungen nehmen sollte, abgelehnt wurde. Mit anderen Worten: Wären die ängstlichen Präkariatsdeutschen nur ordentlich mit der Euro-Puderdose bestäubt worden, gäbe es heute keine Probleme: „Dafür habe ich viel Kritik gerade auch in meiner eigenen Partei einstecken müssen, weil die Stimmung damals eine relativ unpolitische und naive war.“

Das muss man sich einmal vorstellen: Der ehemalige Parteichef bescheinigt der eigenen Partei „unpolitisch und naiv“ gewesen zu sein. Darin hätten die „eigentlichen Fehler“ gelegen. Nur was wäre eigentlich anders gewesen, wenn man politischer und gerissener agiert hätte? Wären dann weniger Zuwanderer gekommen? Fragt Braune leider nicht. Er gewährt Gabriel sogar noch den Spagat, der AfD zu bescheinigen, sie stände außerhalb der Gesellschaft und gleichzeitig seiner Nachfolgerin Nahles zu bescheinigen, die Aussage, „Wir können nicht alle aufnehmen.“, erfülle ihn mit Genugtuung.

Will sich Sigmar Gabriel hier klammheimlich aus der Verantwortung stehlen? An einer Legende stricken? Kann man die Verantwortung, die auf den Schultern lastet, so einfach mit dem Job ablegen? Auch hier wäre ein Untersuchungsausschuss das Mittel der Wahl, auch Gabriel vorzuladen und ihn erst gehen zu lassen, wenn gesagt ist, was gesagt werden muss.

Schlechter Abgang
Gabriel demonstriert an Schulz, was er unter Parteidisziplin versteht
Gabriel findet, die AfD wolle die Grenzen dauerhaft verschieben. Wir ahnen, wie er es meint, allerdings geht es der AfD wohl eher darum, die Grenzen erst einmal zu schließen, die Gabriel und Merkel offen gelassen haben, als die Möglichkeit bestand, wieder vernünftige Grenzkontrollen zu ermöglichen. Gauland und Co. sind für Gabriel „Brandstifter im Gewand der Biedermänner.“ Nun liegen ein paar Jahre zwischen Gabriels Besuch bei Pegida und dem gemütlichen Schwätzchen mit dem wohlmeinenden Journalisten. Zwischen Parteivorsitz und Wohnmobil mit anschließendem Verwaltungsratsposten bei Siemens-Alstom. Zwischen dem Tee-Jungen für den türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu und Köttbullar mit dem schwedischen Ministerpräsidenten.

Ironie dieser schwedischen Urlaubsposse: Die Fleischbällchen basieren auf einem Rezept, das König Karl XII. aus dem Osmanischen Reich mitgebracht hat. Auch Köttbullar hat also einen türkischen Ursprung. Na dann ist ja alles gut.