Tichys Einblick
Nichtachtung der Justiz

Schwere rechtliche Bedenken zu Merkels neuem Infektionsschutzgesetz: „schießt über alle Verhältnismäßigkeitsgrenzen hinaus“

Die Bundesregierung will den bundesweit einheitlichen Lockdown schnell durchsetzen. Immer mehr renommierte Juristen warnen in eindringlichen Worten vor dem Schritt. Er wäre eine "Nichtachtung der Justiz."

IMAGO / Jürgen Heinrich

Am heutigen Dienstag soll die Änderung des Infektionsschutzgesetzes bereits vom Bundeskabinett beschlossen werden – vorgesehen sind bundesweite Ausgangssperren ab 21 Uhr, Schulschließungen, Schließung des Einzelhandels ab einer bestimmten Inzidenz und eine Ermächtigung der Bundesregierung zur Verhängung weiterer Maßnahmen ohne erneuten Parlamentsbeschluss. Wenn das Vorhaben heute angenommen wird, könnte es wohl bereits in den nächsten Tagen Bundestag und Bundesrat passieren. Der deutsche Landkreistag sieht darin ein „in Gesetz gegossenes Misstrauensvotum gegenüber Ländern und Kommunen“.

Doch das Gesetz stößt nicht nur auf zunehmend politischen Widerstand auch unter den so ja in der Corona-Politik weitgehend entmachteten Ministerpräsidenten – es gibt auch zunehmend rechtliche Bedenken.

Zum ersten wäre da die Koppelung der Maßnahmen an einen Inzidenzwert 100. Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Jens Gnisa äußerte sich auf seiner Facebook-Seite dazu: „Nur auf die Inzidenz abzustellen ist bei derartig drastischen Maßnahmen willkürlich, weil die reine Inzidenz davon abhängt wie viel getestet wird. Dies ist manipulierbar.“ Der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau sagte gegenüber TE, dass der Inzidenzwert von 100 völlig willkürlich sei, „zumal der massenhafte PCR-Test kaum geeignet ist, relevante Aussagen über den Stand der Volksgesundheit zu treffen“.

Unmittelbar verstößt das Gesetz wohl nicht gegen das Grundgesetz – die Seuchenbekämpfungspolitik darf der Bund an sich ziehen. Allerdings dauert so ein Beschluss dieser Tragweite normalerweise Wochen wenn nicht Monate, mit verschiedenen parlamentarischen Debatten. Der Verfassungsrechtler Michael Brenner sagt dazu im Deutschlandfunk: „Wenn man das jetzt in kurzer Zeit durchpeitschen würde, dann würde vielleicht die Gründlichkeit ein bisschen auf der Strecke bleiben.“. Auch das vermutliche Ausbleiben einer Sachverständigenanhörung kritisierte er.

Corona-Update 12. April 2021
Die Einschränkung von Grundrechten wird an Phantasiegrößen gekoppelt
Auch wenn formaljuristisch kein Verstoß gegen das Föderalismus-Prinzip vorliegen sollte, sehen viele den Geist des Grundgesetzes bedroht. Brenner sagt etwa: Deutschland habe aus guten Gründen eine föderalistische Staatsstruktur mit starken Ländern. „Die sollte man nicht aus kurzfristigen Erwägungen heraus aushöhlen.“

Jens Gnisa schreibt:  „Der Bund schießt deutlich über alle Verhältnismäßigkeitsgrenzen hinaus.“ und: „Dieses Gesetz führt aber zu einem kaum noch steuerbaren Dauerzustand. Unsere Gesellschaft wird gewissermaßen auf Autopilot gestellt. Kein Bürgermeister, kein Landrat, kein Ministerpräsident, kein Landtag, nicht einmal ein Verwaltungsgericht kann mehr korrigierend eingreifen.“

Der Staatsrechtler Vosgerau konstatiert, dass Ausgangssperren & Co. ein „verfassungsrechtlich nicht geregelter Ausnahmezustand.“ wären, das spräche gegen die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Corona-Maßnahmen.

Insbesondere die Ausgangssperre gerät in den Fokus der Kritik – deren Wirkung nicht nachgewiesen ist. Das OVG Lüneburg hob mit dieser Begründung die regionale Ausgangssperre in Hannover bereits kürzlich auf. Anders als dieses Urteil hätten „viele Verwaltungsgerichte bei der Beurteilung behördlicher Maßnahmen, wie v.a. Ausgangssperren, im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelrecht versagt oder sind jedenfalls ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag nicht nachgekommen.“ meint Ulrich Vosgerau. Gnisa sieht die Schuld bei der Politik: „Ab einer Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren zu verhängen, obwohl von Gerichten deren Wirksamkeit angezweifelt wurde, ist eine Nichtachtung der Justiz.“
Auch der Staatsrechtler Christoph Degenhart sieht beim neuen Infektionsschutzgesetz rechtsstaatliche Prinzipien verletzt.

Eltern aufgrund der Inzidenz zu verbieten, ihre Kinder zu treffen, entspräche für Gnisa auch nicht dem „Bild des Grundgesetzes.“
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