Tichys Einblick
Sarrazin-Interview

Als der „Tagesspiegel“ beinahe vergessen hätte, Haltung zu zeigen

Das Interview mit Thilo Sarrazin in TE machte Schlagzeilen in der Presse. Der Berliner "Tagesspiegel" hatte dabei zunächst versäumt, seinen Lesern zu sagen, was sie davon zu halten haben.

imago Images/Jürgen Ritter

Die jüngsten Aussagen von Thilo Sarrazin im Interview mit Tichys Einblick haben für Schlagzeilen auch in anderen Medien gesorgt. Die Deutsche Presse-Agentur dpa hatte daraus eine Meldung gemacht. Nicht zuletzt die Bild berichtete prominent.

Zu jenen Medien, die unser Interview aufgriffen, gehört auch der Berliner Tagesspiegel, der unter anderem diesen Sarrazin-Satz zitiert: „Die gegenwärtige SPD-Führung ist offenbar teilweise in den Händen fundamental orientierter Muslime, die eine kritische Diskussion des Islam in Deutschland grundsätzlich verhindern wollen.“

Das Blatt veröffentlichte allerdings zwei Versionen dieser Meldung. Die erste ist auf der Website des Tagesspiegels nicht mehr zu sehen. Gegen 11:55 Uhr am Montag erschien sie dem Leser noch so:

Ein wenig später sah die Artikelseite noch fast genauso aus. Fast. An einer Stelle wurde der Text ergänzt. Das ist natürlich grundsätzlich meist kaum erwähnenswert im Online-Journalismus. Man verbessert vielleicht einen Rechtschreibfehler, der durchgegangen ist, oder ergänzt ein Detail zur Nachricht.

Aber hier war offenbar etwas anderes geschehen. Vor der Quellenangabe – also Tichys Einblick – steht nun „der weit rechten Webseite“. Und gleich dahinter findet sich nun noch der Satz: „Belege für diese Behauptung lieferte Sarrazin nicht.“. Auf die erste neutral gehaltene Version gingen Beschwerden in den Kommentaren der an das Haltungskorsett gewöhnten Leser an die Tagesspiegel-Redaktion. Darauf folgten ganz offensichtlich die Änderungen an der Meldung, entweder von einem Kollegen des Autors oder ihm selbst, mit einer für den Besucher vorgewerteten Einordnung. Da hat mal jemand in der Tagesspiegel-Redaktion das Zepter in die Hand genommen und „Haltung“ gezeigt:

In einem weiteren Artikel, der später am gleichen Tag veröffentlicht wurde, berichtet der Tagesspiegel, dessen Motto das Vergil-Zitat „rerum cognoscere causas“ („die Gründe der Dinge erkennen“) ist, dass Kevin Kühnert und Sawsan Chebli per Twitter über Sarrazin spotteten:

Den Hinweis „Via Bild legt Sarrazin nun nach“, hinterlegt der Tagesspiegel hier allerdings wieder nur mit einem Link auf den eigenen ersten Artikel, wo dann aber wiederum auf die Meldung bei Tichys Einblick verwiesen wird. Ja, was denn nun, lieber Tagesspiegel?

Schaut man mal genau, finden sich in dem ganzen „Via Bild legt Sarrazin nun nach“-Artikel zwar viele Verlinkungen zum Tagesspiegel, aber keiner zum Medium, auf das man mit der Aussage „Via Bild“ an der Stelle referiert. Vielleicht kann der oder die aufmerksame und haltungsstarke Mitarbeiterin oder Mitarbeiter der Tagesspiegel-Redaktion hier noch ein letztes Mal korrigierend eingreifen. Damit es schneller geht: Es ginge um diesen Link.

Auch ein roter (mit Link unterlegter) „Sarrazin“ vor einem weiteren Zitat aus unserem Interview – „Ich wäre auch garantiert nicht aus der SPD ausgeschlossen worden, wenn ich ein kritisches Buch nicht über den Islam, sondern über die katholische Kirche geschrieben hätte“ – führt wieder nur, Sie ahnen es: Im Kreis zum Tagesspiegel hin. Nicht, dass ein Leser noch einen Kreislaufkollaps wegen einer ausgehenden Weiterleitung zu einem anderen Medium bekommt.

Vielleicht hat man beim Tagesspiegel irgendwann auch mal darüber nachgedacht, ob man auf andere Medien verlinken sollte und wie das wohl sein würde. Aber sowas führt womöglich auch immer zu mehr Verantwortung, einer nicht enden wollenden Ausdehnung der Einordnungskreise. Wie ließe sich die redaktionelle Bewertung ganz verantwortungsbewusst mit transportieren? Aber jedes Mal den Leser mit einem aufblinkenden Warnhinweis-Popup darauf hinweisen, dass er nun die sichere Haltungszone verlässt, erschien dann eventuell am Ende doch zu ambitioniert. Noch.

Jedenfalls hat dieser Eiertanz vom Tagesspiegel der ganzen TE-Redaktion und auch zahlreichen Tagesspiegel-Lesern, die uns darauf hingewiesen haben, so einen großen Spaß bereitet, dass wir uns aufrichtig dafür bedanken möchten. Und während man in Berliner Hauptstadt- und in anderen Redaktionen noch darüber nachdenkt, warum auch dieser Einordnungs- und Haltungskindergarten immer öfter in einer Nichtkaufhandlung der Leser resultiert, freuen wir uns über kontinuierliches Wachstum und bedanken uns sehr herzlich bei unseren Lesern für das entgegengebrachte Vertrauen, für den Austausch und auch für die Kritik.