Tichys Einblick
Angebliche "Gefährderansprache"

Wie Politiker und Medien die Affäre um die Tiktok-Schülerin kleinreden wollen

Die Polizei rückte in Ribnitz-Damgarten an, um eine 16-Jährige wegen harmloser politischer Posts einzuschüchtern. „War alles nicht so“, lautet das neue Narrativ. In Wirklichkeit ändert sich an dem Vorgang gar nichts. Er bleibt skandalös.

Symbolbild - Schulklasse

IMAGO
Seit über einer Woche geht die Nachricht von dem 16-jährigen Mädchen in Ribnitz-Damgarten durch die Medien, das durch ihren Schuldirektor und die Polizei aus dem Unterricht geholt und einem Gespräch unterzogen wurde – auf welcher rechtlichen Grundlage, ist bisher offen. Fest steht jedenfalls: Jan-Dirk Zimmermann, Leiter des Richard Wossidlo-Gymnasiums, verständigte am 27. Februar 2024 die Polizei, weil eine bisher anonym gebliebene Hinweisgeberin ihn auf Tiktok-Posts der 16-Jährigen aufmerksam gemacht hatte. Fest steht ebenfalls, dass es sich nicht um Posts von irgendeiner juristischen Relevanz handelte. Das Mädchen war auch niemals strafrechtlich aufgefallen.

Nachdem der Fall nicht nur das Landesparlament von Mecklenburg-Vorpommern erreicht hatte, sondern via soziale Plattformen und Presse für bundesweites Aufsehen sorgte, versuchen inzwischen mehrere Medien, den Vorgang unter dem Motto „es war alles ganz anders“ entsprechend einzurahmen. Ein Beitrag in WELT erklärt, das Mädchen sei gar nicht, wie es erst hieß, wegen eines von ihr verbreiteten AfD-freundlichen Posts – des Schlumpf-Videos also – aufgefordert worden, den Unterricht zu verlassen und mitzukommen. Stattdessen, so die WELT, sei es „um tief rechte Symbolik“ gegangen.

In dem WELT-Text heißt es: „Stattdessen zeigten nach WELT-Informationen insgesamt acht Screenshots, die der Hinweis-Mail angehängt waren, beispielsweise einen Post mit dem Schriftzug ‚nix yallah yallah‘ vor einer vermummten Person, die mutmaßlich die Schülerin ist. Ihr Oberteil habe die Buchstaben ‚HH‘ aufgestickt gehabt, außerdem habe sie eine Mütze der Marke ‚Pit Bull‘ getragen. Unter ihrem Nutzernamen habe die Zahl 1161 gestanden, die von Rechten im Internet als Code für ‚Anti-Antifaschismus‘ verwendet wird. Dies teilte die Polizeiinspektion Stralsund auf Anfrage mit. In weiteren Posts hieß es demnach, ‚in Deutschland wird deutsch gesprochen‘ oder ‚heimat freiheit tradition, multikulti endstation‘ (sic!) – eine Parole, die mit der rechtsextremistischen ‚Identitären Bewegung‘ assoziiert wird.“ Außerdem habe es in ihrem Tiktok-Account noch Deutschlandfahnen und „altdeutsche Schrift mit Lorbeerkranz“ gegeben.

Um es gleich vorwegzunehmen: Nach Auffassung der Polizei Stralsund und auch nach ganz allgemeiner Rechtslage erfüllt nichts davon einen Straftatbestand. An dem Fall ändert sich folglich gar nichts: Ob die Polizei nun wegen eines rechtlich unbedenklichen Schlumpf-Videos oder anderer genauso harmloser Posts anrückt, spielt für die Beurteilung des Vorgangs keinerlei Rolle. Was soll auch an „nix yallah yallah“ rechtlich problematisch sein? Bei „heimat freiheit tradition, multikulti endstation“ handelt es sich klar um eine von der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung. Übrigens meinte auch einmal eine gewisse Angela Merkel in ihrer politischen Frühzeit, „Multikulti“ sei „total gescheitert“.

Leider erfährt der Leser auch nicht, worauf sich das „HH“ auf der Kleidung der Schülerin bezieht. Eine Möglichkeit lautet: Es handelt sich womöglich um das Logo der hunderttausendfach verbreiteten Kleidungsmarke Helly Hansen, das aus einem doppelten H besteht. Die Frakturschrift wiederum war im Nationalsozialismus ab 1941 durch einen Erlass Hitlers sogar für offizielle Publikationen untersagt. Und Lorbeerkranz? Den führen Tausende öffentlich spazieren – nämlich alle, die Kleidung der britischen Marke Fred Perry tragen. Die Tiktok-Äußerungen der Schülerin lassen den Schluss zu, dass sie Linke nicht besonders mag. Die muss freilich auch niemand mögen.

Offen bleibt also nach wie vor die Frage, warum die Polizeibeamten überhaupt anrückten. Angeblich, um die betreffenden Screenshots zu „prüfen“. Das hätten die Beamten allerdings auch bequem von ihrer Dienststelle aus tun und vor allem zu dem Ergebnis kommen können, dass es die Polizei nichts angeht, wie Privatleute sich legal in der Öffentlichkeit äußern. Ebenso ungeklärt: Auf welcher rechtlichen Grundlage redeten sie eigentlich auf die 16-Jährige ein?

Landesinnenminister Christian Pegel behauptete zunächst im Landtag, es habe sich um eine „Gefährderansprache“ gehandelt. Irgendjemand erinnerte den Minister dann offenbar daran, dass es Voraussetzungen für eine Gefährderansprache gibt. Es muss erstens entweder eine konkrete Gefahr von einer Person ausgehen oder Tatsachen vorliegen, die eine Gefährdung der Öffentlichkeit erwarten lassen. Nichts davon traf in Ribnitz-Damgarten zu. Außerdem sehen die Vorschriften für eine solche Ansprache vor, dass sie mit Minderjährigen nur in Anwesenheit eines gesetzlichen Vertreters stattfinden dürfen – es sei denn, dessen Anwesenheit behindere „den Zweck des Gesprächs“. In diesem Fall müssen die Vertreter – in der Regel die Erziehungsberechtigten – allerdings „unverzüglich“ informiert werden.

Dazu kommt: In etlichen Bundesländern existieren die rechtlichen Grundlagen für eine Gefährderansprache. In Mecklenburg-Vorpommern scheint das nicht der Fall zu sein. Aber selbst wenn, hätte sie hier niemals stattfinden dürfen. Mittlerweile erklären Polizei und Schulministerium, die Polizisten hätten in Anwesenheit des Direktors mit der 16-Jährigen ein „Aufklärungsgespräch“ geführt. Ein „Aufklärungsgespräch“ von Polizeibeamten mit einem unbescholtenen Bürger kennt die bundesdeutsche Rechtsordnung allerdings nicht. Schon gar nicht mit einer Minderjährigen über deren politische Ansichten.

Im Dunkeln bleibt auch, weshalb sich Schulleiter Zimmermann überhaupt bemüßigt fühlte, die Behörde zu verständigen. Kein Post der 16-Jährigen weist einen Schulbezug auf. Das Schulministerium verweist auf eine Vorschrift von 2010. Die gibt es – aber die betrifft nur Meldungen zu Gewalttaten und politischem Extremismus. Nichts davon passt auf den Vorgang, den der Direktor auslöste.

Zum Kleinreden gehört auch der Hinweis, nicht die Polizei habe die Schülerin aus dem Klassenzimmer gebeten, sondern der Direktor. Die Polizisten hätten draußen gewartet. Das schildert das betroffene Mädchen auch so. Das Gymnasium in Ribnitz-Damgarten hat allerdings großzügige Glasfronten. Wenn ein Polizeiauto vorfährt, bleibt das nicht unbemerkt; holt der Schulleiter kurz darauf eine Schülerin ab, dürften sich sehr viele darauf einen Reim gemacht haben. Außerdem beschreibt die 16-Jährige, andere Schüler hätten sie auf dem Gang gesehen, die Polizeibeamten vor und hinter ihr. Sie habe das als demütigend empfunden.

Zu den Medien, die sich jetzt beim Kleinschreiben und -senden der Geschichte hervortun, gehört auch der NDR. Der klärt nicht etwa die oben beschriebenen offenen Fragen auf, sondern klagt über die „Hetzkampagne gegen Gymnasium in Ribnitz-Damgarten“.

Screenshot NDR

In dem NDR-Stück heißt es über die angeblich irreführende Darstellung des Falls durch „rechte Medien“: „Die Polizei widerspricht der Darstellung vehement. Sie habe von der Schulleitung Hinweise auf möglicherweise staatsschutz-relevante Inhalte bekommen. Das Mädchen sei von den Beamten nicht aus dem Unterricht geholt worden, sondern vom Schulleiter. Es habe zusammen mit ihm und der Schülerin ein gemeinsames Aufklärungsgespräch ‚mit präventivem Charakter‘ gegeben. Von den Mitschülern der Klasse seien die Beamten nicht wahrgenommen worden. Letztlich habe es keinen Anfangsverdacht gegeben.“

Bei „letztlich“ handelt es sich um eine bemerkenswerte Manipulation. Es gab nicht nur „letztlich“ keinen Anfangsverdacht gegen die Schülerin. Sondern nie.

Fazit: An dem, worum es in diesem Vorgang geht – Übergriffigkeit des Staates gegen eine politisch offenbar nicht konforme Minderjährige – ändert sich überhaupt nichts, egal, welche Tiktok-Wortmeldungen den Anlass lieferten. Auch, ob der Direktor sie aus der Klasse holte oder Polizisten, spielt nicht einmal eine Nebenrolle. Zu allen rechtlichen Fragen bleiben Innen- und Schulministerium des Landes weiter sämtliche Antworten schuldig. Der Skandal bleibt ein Skandal. Der Versuch, ihn kleinzureden, macht ihn eher noch größer.

Ganz am Rand ereignete sich in diesem Zusammenhang auch noch folgendes: Die NZZ gehörte zu den Medien, die über das Vorgehen gegen die Schülerin kritisch berichteten. Die Zeitung spiegelte ihren Beitrag auf Facebook – und erhielt von dort die Mitteilung, die Reichweite der Veröffentlichung werde eingeschränkt, weil es sich um eine „Gewaltdarstellung“ handle.

Screenshot X

Natürlich findet sich in dem NZZ-Artikel keinerlei Darstellung von Gewalt und auch sonst nichts, was eine Verbreitungseinschränkung rechtfertigen würde. Das, was Facebook tut, wirkt wie eine vorauseilende Umsetzung der Idee von Nancy Faeser und Lisa Paus, auch Inhalte „unterhalb der Strafbarkeitsschwelle“ aus Netzwerken zu entfernen oder zumindest einzuschränken. Natürlich aus Sorge um die Demokratie.

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