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Relotius reloaded oder: Wie man Unwörter erfindet

Für 2018 galt „Asyltourismus“ als Favorit, gewählt wurde aber „Anti-Abschiebe-Industrie“. Was macht nun ein Wort zum „Unwort“? Nicht das Sprachzeichen an sich, sondern eine Geschichte, die dazu erzählt wird.

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Alle Jahre wieder, und zwar seit 1991, wählt Mitte Januar eine private Jury aus vier Universitätsgermanisten, einem Journalisten und einem Gastmitglied das politische Unwort des vergangenen Jahres.Dachten Sie, da würde ein großes, wissenschaftlich legitimiertes Germium sich lange den Kopf zerbrechen? Nein. Es sind derer sechs. Sie mögen fachlich vorgebildet sein. Sie handeln als Privatleute. Diese Jury wählt aus den Vorschlägen, die bei ihr eingehen, das „Unwort des Jahres“.

I

Häufigster Vorschlag – an dem die Jury aber nicht gebunden ist – war für 2018 Asyltourismus, der zur Jahresmitte  eine breite Mediendiskussion ausgelöst hatte. Zur Erinnerung:  Während des bayerischen Landtagswahlkampfes hatte Ministerpräsident Söder  in einem Interview der Tagesthemen (14. Juni) gefordert, den „Asyltourismus in Europa“ zu beenden. Söders „Wortwahl“ erntete eine solche öffentliche Entrüstung, dass er am 11. Juli im Bayerischen Landtag erklärte:  „Für mich persönlich gilt: Ich werde das Wort Asyltourismus  nicht wieder verwenden, wenn es jemanden verletzt“.

Dieser Widerruf nützte ihm allerdings wenig. Noch vier Monate später – die Landtagswahl war inzwischen vorbei – forderte die Evangelische Rundfunkbeauftragte beim Westdeutschen Rundfunk in der Sendung „Kirche in WDR 2“ (23. November, 5:55 Uhr), Asyltourismus zum „Unwort des Jahres 2018“ zu erklären: „Zu verdanken haben wir diese Wortschöpfung dem CSU-Mann Markus Söder. Was für ein Wort! […] Menschenverachtend, diskriminierend und irreführend.“

II

Söder als „Wortschöpfer“? Keineswegs. Asyltourismus ist seit den 1970er Jahren vereinzelt belegt und verbreitete sich ab 2000 im Zuge einer gemeinsamen Asylpolitik der EU-Staaten, die verhindern wollte, dass Asylbewerber  vom Erstaufnahme-Land in ein anderes migrierten oder Sozialleistungen von zwei Ländern bezogen. Dieser Sachverhalt wurde auf Englisch als asylum shopping bezeichnet und in EU-Dokumenten durch „Asyl-Shopping“ bzw. „Asyl-Tourismus“ ins Deutsche übersetzt., „Asyl-Shopping sollte unterbleiben“, meinte 2004 der deutsche Innenminister Otto Schily (SPD) und erläuterte:  „Wenn einer ein Schutzbedürfnis hat, heißt das nicht, dass er sich auswählen kann, in welchem Land er sich besonders wohlfühlt und wo die Sozialsysteme am günstigsten sind.“

Asyltourismus ist also ein EU-Fachbegriff, der seit fast zwei Jahrzehnten in Dokumenten zur Asyl- und Flüchtlingspolitik vorkommt, die alle keine Geheimpapiere waren. Gestört hat dieser Begriff sprachlich niemanden  − bis zur Landtagswahl 2018 in Bayern.

Ist die deutsche Übersetzung „Asyltourismus“ von englisch asylum shopping etwa falsch? Nein, die EU-Übersetzer benutzten ein Wortbildungsmuster, das in einer Reihe deutscher Neuwörter (Neologismen) vorkommt: Einbruchs-tourismus, Heirats-tourismus, Müll-tourismus, Steuer-tourismus  usw. Mit Urlaub und  Erholung haben diese  Neologismen nichts zu tun: Der Einbruchstourist, der vom Ausland nach Berlin fährt, „die  Hauptstadt der Einbruchstouristen“, so der Berliner Kurier 17. Dezember 2013, interessiert sich nicht für die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Beim Heiratstourismus geht es nicht um Hochzeitsreisen, sondern um Trauungen im Ausland, wo die strengen und für Schein- oder Zwangsehen ungünstigen Formalitäten deutscher Standesämter nicht gelten. Müll- und Steuertourismus stehen für wirtschaftliches Handeln, bei dem Landesgrenzen überschritten werden, um einheimische Gesetze zu umgehen.

Fazit:  Der Wortteil –tourismus wird auch im  übertragenen Sinn (metaphorisch) verwendet und bedeutet dann „grenzüberschreitende, rechtlich fragwürdige Aktivitäten“. Genau dies ist bei Asyltourismus der Fall, bei dem ja zumindest falsche Identitätsangaben gemacht werden – der „Asyltourist“ und Attentäter Anis Amri reiste mit fünfzehn verschiedenen Identitäten durch EU-Europa.

III

Was störte die Öffentlichkeit sprachlich an Asyltourismus?  Den Ton setzte die Redaktion der Tagesthemen, die das Interview Söders am folgenden Tag in einem Internetartikel kommentierte mit dem Titel „Was meint Söder mit Asyltourismus?“ (15. Juni), den der „ARD-Faktenfinder“ Patrick G. verfasste. Patrick schaute im DUDEN nach, was Tourismus bedeutet („das Reisen, der Reiseverkehr … zum Kennenlernen fremder Orte und Länder und zur Erholung“), folgerte daraus,  das Wort sei „grundsätzlich positiv konnotiert“ (Einbruchs-tourismus ist also positiv?) und  „durch den Zusatz Asylwerde „suggeriert, Flüchtlinge kämen freiwillig nach Europa“, sozusagen auf einer „lustigen Tourismusreise“.

Asyltourismus = „Asyl als touristische Reise“ – diese Deutungsformel machte  rasch die Runde und wurde  breit ausgemalt: „Als wäre Flucht eine Kreuzfahrt mit Piña colada“, titelte in der Süddeutschen Zeitung (5. Juli) Jakob B. und urteilte in einem zweiten Artikel (11. Juli): „Tatsächlich deutet  der umstrittene Begriff [Asyltourismus] Flucht vor Gewalt, Krieg und Folter zur Urlaubsreise um“.

Tatsächlich?  Sprachliches Faktum ist, dass Wörter auch metaphorisch verwendet werden  –  eine Riesendummheit ist eine „enorme“ Dummheit, nicht die eines „Riesen“ –, und diesen Gebrauch haben Patrick und Jakob bei Asyltourismus nicht bemerkt. Man könnte gegen dieses EU-Wort allenfalls einwenden, dass es ein beschönigender Ausdruck (Euphemismus) für eine bestimmte Form des Asylbetrugs ist, ähnlich wie Steuertourismus für grenzüberschreitende  Steuerhinterziehung. Aber Patrick und Jakob interessierten sich nicht für Fakten, deshalb fiel ihnen auch nicht auf, dass Söder  „Asyltourismus in Europa“ gesagt hatte (also zwischen sicheren EU-Ländern), nicht „nach Europa“.

IV

Kurz vor Weihnachten gab der „Spiegel“ bekannt, dass sein Reporterstar Claas Relotius in vielen Artikeln Fakten und Fiktion vermischt habe. Aber immerhin reiste Relotius zu den Orten seiner Reportagen.  Patrick und Jakob genügte ihre Sprachphantasie, um Asyltourismus zum Unwort zu machen. Der Erfolg war überwältigend: Das Wort wurde aus dem Verkehr gezogen, und von der Sache – technisch ausgedrückt: Asylbetrug durch Sekundärmigration – spricht niemand mehr.

Die Jury wählte zum Unwort des Jahres 2018 nicht Asyltourismus (vermutlich um eine Überschneidung mit dem Unwort 2013 Sozialtourismus zu vermeiden), sondern Anti-Abchiebe-Industrie. Das Wort stammt vom Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt. Dieser hatte  Anfang Mai nach einem Polizeigroßeinsatz zur Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers aus einem Ellwanger Flüchtlingsheim erklärt: „Es ist nicht akzeptabel, dass durch eine aggressive Anti-Abschiebe-Industrie bewusst die Bemühungen des Rechtsstaates sabotiert werden.“

Anti-Abschiebe-Industrie – konnte man daraus eine Unwort-Geschichte machen? Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) versuchte es mit einem Doppelargument: „Die Arbeit von Anwältinnen und Anwälten zu verunglimpfen, war bislang dem rechten Spektrum vorbehalten.“ Dann müssten auch die Anwälte der Abmahn-industrie und  Steuervermeidungs-industrie „verunglimpft“  werden, zwei Bereiche, zu denen es im Internet Tausende von Einträgen gibt, die nicht zum „rechten Spektrum“ gehören: „Viele Verbraucherinnen und Verbraucher werden Opfer der sogenannten Abmahnindustrie“, heißt es zum Beispiel in einem „Thesenpapier“ der Bundestagsfraktion der Linken.

Die „Verunglimpfung“ des Anwaltstandes  bot keine passende Erzählung zur Anti-Abschiebe-Industrie; ebenso wenig das (falsche) Argument,  es sei typisch „rechts“, juristische Massenverfahren wie 350 000 laufende Einsprüche gegen Abschiebebescheide als Industrie im Sinne von „Fertigung in Serie“ zu bezeichnen. Der Protest verlief sich rasch.  Auch die Jury, die ein halbes Jahr später Anti-Abschiebe-Industrie  wieder hervorholte und zum „Unwort“ erklärte, fand dafür kein neues Narrativ. Sie zitiert zur Begründung  aus einer Zuschrift –  „Mit diesem Begriff [wird] das geltende Gesetz verhöhnt“ –  und ordnet  das Wort politisch korrekt ein:

„Das Unwort 2018 Anti-Abschiebe-Industrie zeigt, wie sich die politische Diskussion sprachlich und in der Sache nach rechts verschoben hat und sich damit auch die Sagbarkeitsregeln in unserer [wer ist unser?] Demokratie in bedenklicher Weise verändern.“ Das Medienecho auf das neue Unwort war schwach: Die Süddeutsche Zeitung vom 16. Januar 2019 brachte die Nachricht unter der Rubrik „Kurz gemeldet“.  Vielleicht war noch das zuviel.

Die Jury versteht ihre Arbeit derweil unverdrossen als „sprachkritische Aktion“. Kritik also. Dieser Kernbegriff der Aufklärung erfordert nach Immanuel Kant (Was ist Aufklärung?, 1784) „die Freiheit, […] von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“. Eine solche Kritik kennt keine „Sagbarkeitsregeln“; wer so etwas fordert, ist unkritisch. Kritik kann und darf alles sagen –  außer der Unwahrheit. Leider hält sich die Jury an diese Regel des berühmten Königsberger Philosophen ganz und gar nicht.