Tichys Einblick
Stuttgart und die Insolvenz des Rechtsstaates

Politiker degradieren die Polizei zur Heilsarmee

Wer die Polizei zu einer sozialtherapeutisch ausgerichteten Heilsarmee macht und die Insolvenz des Rechtsstaates riskiert, hat das Recht zur Führung unseres Landes verloren.

Symbolbild

© Getty Images
An die 500 junge Männer, angeblich bestehend aus zusammengerotteten Kleingruppen der Partyszene, haben am letzten Wochenende in einer beispiellosen Randale Teile der Stuttgarter Innenstadt verwüstet, Geschäfte geplündert, Polizeifahrzeuge beschädigt und Polizeikräfte massiv angegriffen. Auslöser war die Kontrolle auf Drogenmissbrauch eines 17-Jährigen am Schlossplatz. Die mehr als berechtigte Frage der Bürgerschaft ist jetzt, wie dieses Geschehen sich derart ausweiten konnte angesichts der Tatsache, dass die Polizei bereits mit einer Hundertschaft mehr als sonst an Ort und Stelle im Einsatz war.

Bei allem Respekt für die Aufgaben der Polizei und deren diffiziler Ausgangslage sowie für jeden einzelnen Beamten stellen sich zwei konkrete Fragen: „Wie konnte das geschehen?“ Und: „Warum konnte/wollte/durfte die Polizei nicht robust eingreifen?“

In Baden-Württemberg hat die Polizei wie andernorts auch die Aufgabe, vom einzelnen und vom Gemeinwesen Gefahren abzuwehren, durch die das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Grundgesetz Artikel 2), das Recht auf Eigentum (Grundgesetz Artikel 14) sowie die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Grundgesetz Artikel 13) bedroht wird. „Dabei hat die Polizei innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtmäßigem Ermessen erforderlich erscheinen.“

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Wieso also haben die an Ort und Stelle rund 300 eingesetzten Polizisten (darunter etwa 100 aus der Region und 30 der Bundespolizei) in Erfüllung ihrer Aufgaben nicht zu robusten Mitteln gegriffen, die ihnen nach Recht und Gesetz zustehen? Dabei wurden Polizeibeamte in brutaler Weise attackiert, die Gegenwehr fiel den verfügbaren Medienberichten nach spärlich aus. Die Kräfte waren mit den üblichen defensiven Mitteln hoffnungslos überfordert, nur mit Gruppenbildung konnten sie sich der Angriffe des sich zusammenrottenden Gesindels erwehren. Und das – sofern die Meldungen stimmen – bei einem für die Sicherheitskräfte günstigen Verhältnis von einem Polizeibeamten auf eineinhalb Übeltäter.
Warum kein robuster Polizeieingriff?

Polizeikräfte können nach Recht und Gesetz Schlagstöcke einsetzen, bei Bedarf auf Wasserwerfer und Schusswaffen zurückgreifen. Sogenannte Elektroschockpistolen (Taser) sind bisher nur bei Streifenpolizisten in den Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz sowie demnächst im Saarland im Einsatz. In fünf weiteren Ländern (Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen) laufen derzeit Probephasen.

Wieso also diese Randale gerade in Stuttgart, der eher behäbigen Metropole Baden-Württembergs? Welche Faktoren wirken dort, die der Polizei womöglich das Leben noch schwerer machen, als es in anderen Ländern sowieso bereits an der Tagesordnung ist? Hat das nicht entschiedene Eingreifen der Sicherheitskräfte dem Pöbel etwa gar ein Signal zur Hinnahme zügelloser Gewalt vermittelt?

Bundesweit wird unsere Polizei von interessierten Kreisen als womöglich rassistisch infrage gestellt (SPD-Co-Vorsitzende Esken) oder gar auf der Müllhalde entsorgt (Kommentar der taz).

Stuttgart 21 kommt einem zudem mit dem „Schwarzen Donnerstag“ des 30. September 2010 in den Sinn. Bei den damaligen Massendemonstrationen wurden neben Polizisten auch Demonstranten verletzt. Die Polizei musste sich schließlich heftige Vorwürfe nach dem Einsatz von Wasserwerfern gefallen lassen. Der damalige Vorsitzende des Polizeigewerkschaft bot Wetten an, dass in Baden-Württemberg niemals wieder Wasserwerfer eingesetzt werden würden. Er hätte zum Nachteil der öffentlichen Sicherheit die Wette gewonnen.

Ein randalierender Pöbel ist mit Deeskalation nicht zu beeindrucken

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die „hohe“ Politik um des lieben Medienfriedens willen eine allseits deeskalierende, also brave Polizeitaktik vorgibt. Bezeichnend sind die Antworten, die TE auf eine entsprechende Anfrage am 24. Juni vom Innenministerium in Stuttgart bekam. TE hatte gefragt: „Warum wurden von der Polizei offenbar keine Wasserwerfer eingesetzt?“ Antwort des Innenministeriums: „Die Eskalation der Ereignisse in Stuttgart war für die Polizei nicht vorhersehbar. Deshalb standen kurzfristig keine Wasserwerfer zur Verfügung.“ TE hatte weiter gefragt: „Warum wurden von der Polizei offenbar keine Warnschüsse abgegeben?“ Antwort des Innenministeriums: „Warnschüsse sind ultima ratio und eines der letzten Mittel vor dem tatsächlichen Einsatz der Schusswaffe. Durch das besonnene und deeskalative Handeln aller eingesetzten Polizeibeamtinnen und –beamten war dies letztlich glücklicherweise nicht erforderlich.“

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Wie bitte? Es stehen in der Landeshauptstadt keine Wasserwerfer zur Verfügung? Und: Warnschüsse waren nicht erforderlich? Sind das Folgen der massiven Verunsicherung der Polizei, dass diese sich ob öffentlicher Diskussionen nicht mehr trauen, die ihnen zustehenden Wirkmittel beizeiten und zielgerichtet einzusetzen? Muss die Rücksichtnahme ganz besonders ausfallen, wenn Randalierer mit Migrationshintergrund betroffen sind, damit ja nicht die Rassismuskeule ausgepackt werden kann? Wieso wurde nicht mit dem Einsatz von Schusswaffen gedroht, wie es sonst bei Gefahr für Leib und Leben praktiziert wird? Weshalb wird kein Warnschuss abgegeben, wenn ein Straßenmob plündernd seine Untaten verrichtet? Wo führt das hin, wenn die Polizei vor lauter Rücksichtnahme auf politische Vorgaben und befürchtete kritische Medienberichte die Eigentumsrechte der Bürger vernachlässigt? Die Ladeninhaber werden ihre Steuern bezahlt haben und müssen dennoch ohnmächtig zusehen, wie ihre Auslagen geplündert werden. Wenn Geschäfte geplündert werden, ist der Einsatz von Schusswaffen nicht erforderlich? So ist es in der Stellungnahme des Stuttgarter Innenministeriums nachzulesen. Ein unglaublicher Vorgang!

Die Wortmeldungen der verantwortlichen Politikerkaste fielen zwar deutlich aus: Bundespräsident Steinmeier verurteilte pflichtgemäß die Ausschreitungen vom Wochenende und stellte sich hinter Polizeibeamte. Kanzlerin Merkel bezeichnete in einer ihrer raren Äußerungen die Ausschreitungen als „abscheulich“.

Grundvertrauen in den schützenden Staat in Gefahr

Wo waren aber diese Damen und Herren, als es in den letzten Wochen anhand des für Deutschland völlig untauglichen Beispiels von Polizeigewalt in den USA fällig gewesen wäre, unserer Polizei den Rücken zu stärken und sich in unmissverständlicher Form vor sie zu stellen? Es wäre längst überfällig gewesen, der Treibjagd gegen die Polizeikräfte unseres Landes frontal entgegenzutreten. Was in den deutschen Medien und in Teilen der Politik seit einiger Zeit praktiziert wird, zielt auf die Kastrierung der Sicherheitskräfte unseres Landes. Polizei (und Bundeswehr) werden im Wechsel mit Vorschriften und Vorwürfen überzogen und „eingehegt“, so dass sie sich weder ihrer Aufgaben noch ihrer Befugnisse sicher sein können.

Aufgabe des Staates freilich wäre es an vorderster Stelle, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Das Gewaltmonopol ist unteilbar. Eine Regierung, die dies verwirkt, verspielt das Grundvertrauen der Wähler. Wer die Polizei zu einer sozialtherapeutisch ausgerichteten Heilsarmee macht und die Insolvenz des Rechtsstaates riskiert, hat das Recht zur Führung unseres Landes verloren.

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