Tichys Einblick
Tichys Einblick 08-2021

Murswiek: Brüssels Verfahren gegen Deutschland ist ein „dreister Akt“

Mit dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland soll ein Exempel statuiert werden: Es ist der dreisteste von vielen Akten, mit denen die EU-Zentrale sich jene Souveränität aneignen will, die gemäß den EU-Verträgen bei den Mitgliedsstaaten liegt

IMAGO / Horst Galuschka

Berlin. Das Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Deutschland wegen eines Verfassungsgerichtsurteils zu den Anleihekäufen der EZB ist nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Dietrich Murswiek ein „dreister Akt“. Es sei der Versuch, die Souveränität der Mitgliedsstaaten einzuschränken. „Dieser Beschluss ist der neueste und dreisteste Akt in einer langen Reihe von Schritten, mit denen Brüssel seine Macht zulasten der Mitgliedsstaaten ausdehnen und sich schleichend die Souveränität aneignen will, die nach den EU-Verträgen immer noch bei den Mitgliedsstaaten liegt“, kritisiert Murswiek in einem Gastbeitrag für die Zeitschrift Tichys Einblick. Obwohl das deutsche Bundesverfassungsgericht letztlich die Anleihekäufe der EZB toleriert, hat es laut Murswiek mit dem Verfahren die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshof in dieser Sache in Frage gestellt. „Diese Auflehnung gegen den EuGH, mag sie in ihren praktischen Konsequenzen auch völlig belanglos sein, will die Kommission nicht akzeptieren. Sie möchte ein Exempel statuieren und die alleinige Zuständigkeit des EuGH zur verbindlichen Auslegung des EU-Rechts sichern“, so Murswiek.

Doch der Verfassungsrechtler sieht den Vorrang des EU-Rechtes durch die „Verfassungsidentität der Mitgliedsstaaten“ begrenzt. „Das EU-Recht kann keine Geltung in einem Mitgliedsstaat beanspruchen, wenn es mit dessen grundlegenden Verfassungsprinzipien unvereinbar ist. Für Deutschland bedeutet dies, dass das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip und das Sozialstaatsprinzip, natürlich auch die Menschenwürdegarantie, nicht durch EU-Recht beeinträchtigt werden dürfen. Deshalb steht dem BVerfG das Recht zur „Identitätskontrolle“ zu“, so Murswiek. Es gehe in dem Streit darum, wer feststellen dürfe, ob ein EU-Organ seine Kompetenzen überschritten hat.

Für Murswiek liegt auf der Hand, dass das Bundesverfassungsgericht darüber urteilen darf, ob EU-Maßnahmen gegen deutsches Verfassungsrecht verstoßen. „Wenn, wie das BVerfG im Lissabon-Urteil formuliert hat, die Kompetenzüberschreitung jedoch klar „ersichtlich“ ist, muss ein nationales Verfassungsgericht die Gefolgschaft verweigern dürfen.“ Diese Kompetenz steht nach den EU-Verträgen „eindeutig den Mitgliedsstaaten zu“, so Murswiek. „Einen Souveränitätsübergang zur EU wollte das BVerfG mit dem Lissabon-Urteil verhindern. Wenn ihm nicht die Kompetenz zur Identitäts- und zur Ultra-vires-Kontrolle zustünde, hätte der Vertrag von Lissabon nicht ratifiziert werden dürfen, weil das mit dem unabänderlichen Verfassungskern des Grundgesetzes – dem Demokratieprinzip und mit dem Prinzip der souveränen Staatlichkeit – nicht vereinbar gewesen wäre“, urteilt der Verfassungsrechtler. „Nun will die EU-Kommission das Lissabon-Urteil aus den Angeln heben und die Dominanz der EU über die Mitgliedsstaaten besiegeln.“


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