Tichys Einblick
Nicht selbsterklärend

Merkel sitzt in China

Je öfter Merkel bei Nationalhymnen sitzt, ohne dass es Erklärungen gibt, desto mehr werden sich Deutungen festsetzen als ohnehin schon in Social Media.

OMAN PILIPEY/AFP/Getty Images

Scherlich kann man es „kurios“ nennen, wie es Deutschlands größte Boulevard-Zeitung BILD gemacht hat, denn kurios ist es auf jeden Fall, wenn Angela Merkel ihre politischen Geschäfte scheinbar gesundheitlich ohne Einschränkungen absolvieren kann, aber ausgerechnet bei staatstragenden Momenten schlapp macht und die wenigen Minuten sitzend hinter sich bringt, weil sonst Gefahr besteht, dass die deutsche Bundeskanzlerin wieder öffentliche Zitteranfälle bekommt. Die Diskussionen darum werden noch dadurch angeheizt, dass eine plausible Erklärung dafür ausbleibt, die, kämen sie doch, sicher mehr Mitgefühl als Häme auslösen würden.

Wie kompliziert mitunter die Protokollarien sind, insbesondere, wenn die westliche Kultur auf eine andere trifft, spiegelte gerade perfekt ein Szene vom China-Besuch der Kanzlerin, als diese von Ministerpräsident Li Keqiang mit militärischen Ehren begrüßt und erst die deutsche und dann die chinesische Hymne abgespielt wurde. Zunächst kamen die Chinesen in vollendeter Höflichkeit dem Problem der Kanzlerin entgegen, zwei Prunksessel mit aufwendig geschnitzten Edelholzlehnen wurden auf das Podest der Regierungschefs gegenüber der Parade aufgestellt, Chinas erster Mann im Staat bot Merkel den Sessel zu seiner Rechten an und nahm dann selber Platz, als zunächst die deutsche Hymne abgespielt wurde.

Angela Merkel
Die Unersättlichen
Als im Anschluss allerdings die chinesische Hymne erklang, hielt es den 64-Jährigen nicht mehr auf seinem Sessel, während Merkel weiter sitzen blieb. Unhöflich? Nein, eigentlich folgerichtig, denn was für eine Botschaft wäre es gewesen, wenn Merkel jetzt aufgestanden wäre und nur bei der deutschen Hymne kein Stehvermögen gezeigt hätte?

Und dass Li Keqiang sich bei seiner Hymne sofort erhoben hat, ist keine Unhöflichkeit gegenüber der sitzenden Merkel, sondern symbolisiert den Respekt gegenüber der eigenen Hymne und Nation. Wer um die Bedeutung von Gesten in China weiß, der ahnt, was dort passierte, wäre der Ministerpräsident sitzen geblieben.

Nun kann man diesen Moment in Merkels China-Reise eine Randnotiz für die Boulevardseiten nennen, man kann aber auch, solange es keine befriedigende Erklärung für die Ausfälle der Bundeskanzlerin gibt, die Nase darüber rümpfen, das ausgerechnet, wenn es um ein paar Minuten Respekt vor der deutschen Fahne und der deutschen Hymne geht, die Kanzlerin schlapp macht, während davor und im Anschluss offensichtlich wieder alles seinen normalen Gang geht.

Die detaillierte Deutung kann man getrost Fachleuten überlassen, aber wenn da weiterhin nichts kommt, wird einer Küchenpsychologie Tür und Tor geöffnet – wenn die Kanzlerin hier eine spontane Reaktion auf den feierlichen Lobgesang, auf das Lied der Deutschen zeigt, welches sowieso nur zu besonderen Anlässen gespielt wird. Dabei wird immer wieder der Moment in Erinnerung gerufen, als Angela Merkel bei der CDU-Wahlparty 2013 ihrem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe unwirsch die Deutschlandfahne aus der Hand nahm und an den Bühnenrand verbannte.

Weil sonst was passiert wäre? Wäre es nach einigen Minuten des Weiterschwenkens schon damals zu spontanen Zitteranfällen der Kanzlerin gekommen? Hatte sie also Gröhe die Fahne aus Selbstschutzgründen entrissen? Solche dann ebenfalls „kuriosen“ Fragen werden tatsächlich aufgeworfen, wenn offizielle Erklärungen für dass „kuriose“ Verhalten der Kanzlerin fehlen.

P.S.: Als Merkel Gröhe die Fahne entriss, wurde übrigens nicht etwa gerade die deutsche Hymne gespielt, sondern „An Tagen wie diesen“ von den Toten Hosen. Ansonsten hätte Angela Merkel möglicherweise auch noch den Plattenspieler umgeschmissen.

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