Tichys Einblick
Was wir nicht vergessen dürfen

Vor 60 Jahren wurde der „antifaschistische“ Schutzwall gebaut

Folgen jetzt die antifaschistischen Schutzwälle in den Köpfen?

Es unterliegt mehr und mehr einem politisch durchaus gewollten historischen Analphabetismus, dass Deutschland und Deutschland zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 über fast eine Generation hinweg, mehr als 28 Jahre, exakt 10.315 Tage, aus ideologischen Gründen schier unüberwindbar getrennt waren.

Entreißen wir einige Fakten dem Vergessen, auf dass sich nicht immer wieder Legendenbildungen und Verklärungen einstellen. Denn der US-amerikanische Historiker und Philosoph George Santayana hat nach wie vor Recht: Wer Geschichte ignoriert, muss darauf gefasst sein, sie zu wiederholen.

Was ging dem 13. August 1961, dem Beginn des Baus des „anitfaschistischen Schutzwalls“, der nicht schützte, sondern einsperrte, voraus? Mit Inkrafttreten der DDR-Verfassung war die DDR am 7. Oktober 1949 aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hervorgegangen. Mit DDR-Gesetz vom 23. Juli 1952 wurden die fünf Länder Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen zugunsten von 14 Bezirken aufgelöst. Ab Mai 1952 war eine mehrere Kilometer breite Sperrzone auf der östlichen Seite der innerdeutschen Grenze eingerichtet worden. Unter den Namen „Aktion Ungeziefer“/„Aktion Grenze“ wurden zwischen 11.000 und 12.000 „Fluchtverdächtige“ und „Regimegegner“ ins Landesinnere umgesiedelt.

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Von September 1949 bis August 1961 verließen 2,8 Millionen Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Weil es sich überwiegend um junge, qualifizierte Leute handelte, hatte dieser Aderlass vernichtende Folgen für die DDR-Volkswirtschaft. Allein im Jahr 1960 waren es 199.188. Ab Frühjahr 1961 schwoll die Fluchtwelle noch mehr an. Im Jahr 1961 verließen bis zum Mauerbau 236.390 Bürger die DDR.

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SED-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht sprach sodann bei KPDSU-Chef Nikita Chruschtschow vor, er wollte West-Berlin völlig abriegeln. SED-Sicherheitschef Erich Honecker bereitete die „Operation Rose“ vor. Details drangen nicht durch. Am 15. Juni 1961 noch verkündete Walter Ulbricht auf einer Pressekonferenz: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“

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In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 fuhren um 1.05 Uhr Schützenpanzer auf. Bewaffnete DDR-Kräfte bildeten quer durch Berlin eine Kette und sperrten mit Stacheldraht die rund 80 vorhandenen offiziellen Übergänge zwischen Berlin-West und Berlin-Ost ab. Eineinhalb Stunden später war ganz Berlin-West umstellt.

Dennoch gab es da und dort noch Lücken, durch die Tausende Ost-Berliner fliehen konnten, zum Beispiel über den Landwehrkanal oder indem sie sich aus Ostberliner Häusern auf Westberliner Hoheitsgebiet abseilten. Andere flohen über Abwasserkanäle. Ab 15. August 1961 wurden Sperren aus Beton- und Ziegelsteinen errichtet. Ab September 1961 werden Gebäude entlang der Mauer geräumt und planiert – auch Kirchen.

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Walter Ulbricht kündigt am 22. August im Politbüro an: „Auf die Deutschen, die den deutschen Imperialismus vertreten, werden wir schießen. Wer provoziert, auf den wird geschossen!“ Am Folgetag bekommen die Grenztruppen scharfe Patronen. Nur zwei Tage später wird im Humboldthafen beim Reichstag der 24-jährige Schneidergeselle Günter Litfin erschossen. Der Schießbefehl lautete ab 14. September unter anderem: „Auf Flüchtlinge, die sich der Festnahme durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen versuchen, dürfen nach einem Warnschuss gezielte Schüsse abgegeben werden.“ Erich Honecker ordnet am 3. März 1974 an: „Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden.“ In Kraft bleibt der Schießbefehl bis Anfang April 1989. Dass er ab da aufgehoben war, blieb geheim.

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Ab 1964 schuf man ein „freies Schussfeld“. Es wurden 1,3 bis 1,4 Millionen Anti-Personen-Minen sowjetischer Bauart verlegt. Dazu gab es Stolper- und Signaldrähte, Laternen und Gitter mit zehn Zentimeter langen Stahlnägeln („Stalinrasen“). Dazu mehr als 200 Laufanlagen für speziell abgerichtete Hunde (bis zu 3.000) und fast 250 Wachtürme. Minenfelder und Selbstschussanlagen werden an der Grenze zu West-Berlin aber auf Anweisung der Sowjets nicht installiert.

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Rund 220.000 DDR-Bürgern gelang zwischen dem Mauerbau und 1988 die Flucht dennoch ohne Genehmigung, davon wohl 40.000, die ihren Versuch unter Gefahr für Leib und Leben unternahmen. Annähernd 1.000 haben bei ihrem Versuch, von Deutschland nach Deutschland zu fliehen, ihr Leben verloren. Wahrscheinlich sind es noch erheblich mehr. Geschätzte 6.000 Versuche gab es, vor allem jeweils im Spätsommer, über die Ostsee Dänemark zu erreichen. An der Ostseeküste wurden 600 Wasserleichen registriert. Bei 72 davon handelt es sich um belegte Fluchtversuche. Die letzten Fluchtopfer sind Chris Gueffroy, der im Februar 1989 in Berlin erschossen wird, sowie Winfried Freudenberg, der im März 1989 mit einem improvisierten Gasballon abstürzt.

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In der DDR gab es 200.000 bis 250.000 politische Gefangene. Viele sind in den Gefängnissen gestorben. Um Systemkritiker dingfest zu machen oder um sie und ihre Familien wenigstens zu drangsalieren, gab es 189.000 Informelle Stasis-Mitarbeiter (Stand: 1989) und 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter (Stand: 1989).
112 Kilometer Stasi-Akten wurden gefunden. Aus der DDR-Bevölkerung wurde aus Angst vor der alltäglichen Bespitzelung ein „Volk der Flüsterer“.

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Wer Glück hatte, kam in den Genuss des „Häftlingsfreikaufs“. Zwischen 1964 und 1989 waren es 33.755 DDR-Bürger. Die DDR besserte damit bzw. mit den damit kassierten 3,4 Milliarden DM ihren Staatshaushalt auf. Wer weniger Glück hatte, dem drohte durchaus die Todesstrafe: Diese wurde in der DDR 221mal verhängt und 164mal vollstreckt, zuletzt im Juni 1981 in Leipzig.

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Die „Mauer“ hatte auch gravierende Folgen für die psychische Gesundheit der Menschen. Von 1951 bis 1990 gab es in der DDR 204.000 Suizide – alles ab 1961 streng geheim verwahrte Statistiken. Die Suizidrate je 100.000 DDR-Bewohner (etwa 30) lag damit ungefähr zwei- bis zweieinhalbmal so hoch wie in der Bundesrepublik.

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Und die gesamtdeutsche Erinnerungskultur?

War ja alles nicht so schlimm! Oder? Die DDR sei ja kein Unrechtsstaat gewesen, meinen heute noch so manche „linke“ Politiker. Eine „commode Diktatur“ sei die DDR gewesen, meinte der Nobelpreisträger und SPD-Wahlkämpfer Günter Grass.

Mutige Leute wie Hubertus Knabe, die sich seit Jahrzehnten der Aufdeckung des DDR-Unrechts Systems widmen, werden von einem Berliner Links-Justizsenator unter fadenscheinigen Gründen aus dem Amt des Direktors der Gedenkstätte Hohenschönhausen katapultiert. Ohne dass die Berliner CDU großen Widerstand aufbrächte. Damit auch in Zukunft gelten kann: Je länger die DDR Geschichte ist, um so schöner wird sie.

Und was ist mit einem Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft? 2014 wurde dem damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages Norbert Lammert ein Aufruf für ein „Mahnmal für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Deutschland“ übergeben, welcher von DDR-Bürgerrechtlern, Opfern der SED-Diktatur und Personen des öffentlichen Lebens unterzeichnet war. In einer Anhörung haben sich im Februar 2017 alle Experten für die Errichtung eines zentralen Gedenkortes ausgesprochen. Dann erfolgte am 13. Dezember 2019 ein Beschluss des Bundestages. Ergebnis im Sommer 2021: Es gibt noch nicht einmal einen Standort.

Und was ist mit der Rechtsnachfolgerin der Mauerbauerpartei SED, der mehrmals namentlich gewendeten jetzigen Partei DIE LINKE, die in Thüringen einen Ministerpräsidenten von Merkels Gnaden stellt, die mit 69 Abgeordneten im Bundestag sitzt und in zehn deutschen Landtagen mit insgesamt 145 Abgeordneten ein nettes Dasein führt? Und was ist mit den verschwundenen SED-Millionen?

Der großartige Lyriker und Essayist Reiner Kunze (*1933), der am 16. August 88 Jahre alt wird, der exakt 44 Jahre in einer der zwei deutschen Diktatur verbringen musste, der 1977 aus der DDR unter Androhung einer Gefängnisstrafe zur Übersiedlung in den Westen gedrängt wurde und nun seit 44 Jahren bei Passau in der Bundesrepublik lebt, ist mit Blick auf all diese Entwicklung im wiedervereinten Deutschland mehr und mehr in Sorge. In einem Essay mit dem Titel „Wenn wieder eine Wende kommt“ schreibt er: „Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es, aber es gibt Ideologien, deren die Menschheit nie Herr werden wird, und der Weg von der Demokratie in die Diktatur kann demokratisch sein.“ Mit Blick auf das Deutschland des Jahres 2021 ist Kunze zurecht in Sorge.

Man schaue sich nur die zahlreichen politischen und medialen Bemühungen an, Freiheiten unter Berufung auf die neuen „Religionen“ namens Klima und Corona zu beschneiden! Und die Bemühungen aus der gleichen Ecke, in den Köpfen der Menschen angeblich notwendige, neue antifaschistische Schutzwälle zu errichten: gegen alles Bürgerliche, Traditionelle, Konservative, Deutsche, Abendländische, Christliche, Männliche, Weibliche, gegen die Weisheit der Sprache!

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