Tichys Einblick
Ein »Machtwort« auf Zeit

Kernkraftwerke in Leistungs-, Reserve- oder Streckbetrieb?

Die drei verbliebenen Kernkraftwerke sollen jetzt über den 31. Dezember hinaus laufen. „Längstens“ jedoch bis zum 15. April 2023. Soweit die Ansage von Scholz. Die Frage ist, wie lang „längstens“ wirklich ist – und ob bald das nächste Machtwort fällig wird.

Kernkraftwerk Emsland, Lingen, Niedersachsen

IMAGO / Rupert Oberhäuser

»Sehr geehrte Kollegin, sehr geehrte Kollegen«, beginnt Bundeskanzler Scholz sein Schreiben an Umweltministerin Lemke, Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner: »Ich habe als Bundeskanzler entsprechend Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung die nachfolgende Entscheidung getroffen: Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar zwei, Neckarwestheim zwei sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.4.2023 zu ermöglichen.«

Scholz schreibt (»mit freundlichen Grüßen«) ausdrücklich von einem »Leistungsbetrieb«. Dies bedeutet, dass die drei verbliebenen Kernkraftwerke weiterhin in der Merit-Order mitbieten. Damit bleibt das Angebot an Strom hoch und die Preise niedrig.

Kein „Machtwort“, sondern Realitätsflucht
Der faule Kernkraft-Kompromiss zu Lasten dieses Landes
Habeck wollte es – von seinen links-grünen Staatssekretären getrieben – genau umgekehrt: Das Kernkraftwerk Emsland sollte stillgelegt werden, die beiden restlichen Kernkraftwerke in Süddeutschland noch bis Mitte April im »Reservebetrieb« laufen. Im »Reservebetrieb« wohlgemerkt, also mit warmen Kesseln, aber keinen Strom liefern dürfend. Dies hätte das Angebot an Strom weiterhin äußerst knapp und die Strompreise hoch gehalten; damit hätten die »Übergewinne« der Stromerzeuger noch mehr sprudeln können. Habeck hätte seine grüne Ökolobby auf das Vortrefflichste bedienen können; die hätten allen Grund, mit ihm sehr zufrieden zu sein, der Stromverbraucher wäre einmal mehr der Dumme gewesen, der zahlen müsste.

Insofern setzt Scholz seine Richtlinienkompetenz richtig ein. Deutlich ist auch sein Machtwort in Sachen Verlängerung der Laufzeiten von Kohlekraftwerken. Die Stromproduktion der Braunkohlekraftwerke im Rheinischen Revier soll massiv gestärkt werden, in den Tagebauen wird weiter Kohle abgebaut. Die ist noch in großen Mengen vorhanden und zudem sehr preisgünstig, kann ohne aufwändige Transportwege direkt in den Kraftwerken in Strom und Wärme umgewandelt werden. Auch das trägt zur Erweiterung des Stromangebots bei und hält die Preise niedrig.

Das Dorf Lützerath, um das jetzt Klimaaktivisten Demonstrationen angesagt haben, wird weichen. Die Bewohner sind schon seit langem ausgezogen, gut entschädigt worden und haben schon längst neue Häuser bezogen. Dies alles war bereits vor langer Zeit im Kohlekompromiss festgelegt worden, dem in Nordrhein-Westfalen auch die Grünen zugestimmt hatten. Unter dem alten Kabinett »Kraft« in Düsseldorf wurde sogar das Jahr 2045 als Ende für den Tagebau Garzweiler festgelegt.

Die drei Kernkraftwerke, die von den ursprünglich 17 übrig geblieben sind, sollen jetzt also »längstens« bis 15. April des kommenden Jahres laufen. Und dann? Wird dann ein neues Machtwort fällig – wenn Scholz überhaupt noch Kanzler ist.

Von neuen Brennstäben schreibt Scholz nichts; es ist auch keine Grundsatzentscheidung für einen Weiterbetrieb von Kernkraftwerken zur Energiesicherung, wie sie bereits im März der Verband Kerntechnik Deutschland e.V. (KernD) verlangt hatte.

Für die restlichen Kernkraftwerke bedeutet dies einen sogenannten »Streckbetrieb«, bei dem die Brennstäbe nicht mehr erneuert werden. Normalerweise werden im Jahresrhythmus ein Drittel der Brennstäbe im Reaktorkern gegen neue ausgetauscht. Dies geschieht nicht mehr. Wie lange die alten halten, ist nicht ganz klar. Ein solches Experiment an lebender Energieversorgung eines Landes hat noch nie jemand gemacht.

Formelkompromiss des Kanzlers
„Machtwort“ zum Ampeltheater – Scholz und seine Koalitionsrettung
Der Verband KernD wies noch im Juli dieses Jahres darauf hin, dass ein reiner »Streckbetrieb« mit den in den Reaktoren vorhandenen Brennelementen über das Jahresende 2022 hinaus jetzt nur noch wenig Sinn ergebe. »Ohne die von KernD schon länger angeratene Bestellung neuer Brennelemente ist nur ein zeitlich eng begrenzter Beitrag zur Stromversorgung möglich. Nach fast 5 Monaten der Diskussionen ohne ein entsprechendes politisches Signal haben die Betreiber die Anlagen auf hoher Last gefahren, wie dies auch der Bundeskanzler gefordert hatte. Nun ist der „Tank bald leer“ und nur noch mit Nachladung frischer Brennelemente kann in der voraussichtlich noch länger andauernden Krisensituation nennenswerte Hilfe geleistet werden. Die Politik sollte endlich handeln und dafür die Weichen möglichst sofort stellen.«

Und weiter: »Es ist aktuell davon auszugehen, dass die Energieversorgungskrise noch mehrere Jahre andauern wird – und in dieser unsicheren Zeit könnten die Kernkraftwerke mit frischen Brennelementen noch einen deutlichen Beitrag zur Versorgungssicherheit, zum Klimaschutz und zur Kostendämpfung leisten. Wenn es also wie jetzt um jede Kilowattstunde geht, sollte man die jährlich rund 11 Milliarden Kilowattstunden Strom pro Kernkraftwerk, die für Deutschland noch bereitgestellt werden könnten, nicht einfach ignorieren.«

Darauf wiesen die Kernkraftfachleute bereits Ende Juli hin. Passiert ist nichts. Wie die Bundesregierung mit der Frage der Energieversorgung des ihr anvertrauten Industrielandes umgeht, ist abenteuerlich. „Am Abschalten von Kernkraftwerken festzuhalten, ist nichts anderes als Sabotage“, schreibt Welt-Herausgeber Stefan Aust.


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