Tichys Einblick
Flucht 1962

Linke ehrt Mauerschützen – und der Skandal bleibt aus

30 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur stört es offenbar kaum jemanden, wenn "Die Linke" einen Todesschützen im Dienst der DDR an der Berliner Mauer mit einer Gedenkanzeige in der linksradikalen Zeitung „Junge Welt“ ehrt.

Grenzsoldaten der DDR in Berlin 1961

imago images / Leemage

Man stelle sich vor, 1975, 30 Jahre nach Ende der Nazi-Barbarei erscheint in einer bundesdeutschen Tageszeitung eine Anzeige zum Gedenken an einen im Dienst im Dritten Reich erschossenen SS-Unteroffizier – unterschrieben von alten und neuen Kameraden. Grund für seinen Tod, nehmen wir mal an, waren die Schüsse flüchtender amerikanischer Kriegsgefangener. Der Unteroffizier, nennen wir ihn Hagen Schmidt, war in dieser Nacht Leiter eines Wachkommandos des Kriegsgefangenenlagers. Gezielt wurde gleich von Mehreren auf die Flüchtigen geschossen. Natürlich wurde auch getroffen. Einem der Flüchtlinge war es gelungen, eine Handfeuerwaffe im Lager zu verstecken und bei der Flucht mit sich zu führen. Er schoss in Richtung des Wachturms, von dem aus die tödlichen Schüsse auf die Gruppe der Fliehenden abgegeben wurden. SS-Mann Hagen wurde tödlich getroffen, ein anderer der Totenkopfmänner schwer verletzt. Zu Recht hätte es angesichts dieser Anzeige einen bundesweiten Aufschrei gegeben. Landauf, landab Empörung, Appelle und Manifeste von Politik, Opferverbänden, Kirchen, Kultur und ganz besonders der Medien.

Heute, 30 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur, stört es offenbar kaum jemanden, wenn die sich heute „Die Linke“ nennende SED einen ihrer Todesschützen an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer mit einer Gedenkanzeige in der linksradikalen Zeitung „Junge Welt“ ehrt. Anlass war der 80. Geburtstag, den der Mauerschütze Peter Göring am 28.12.2020 begangen hätte. Unterzeichner sind Organisationen der Linkspartei, wie die „LAG Deutsch-Russische Freundschaft Sachsen“, die „IG Frieden-Gerechtigkeit-Solidarität/Die Linke Chemnitz“ und andere.

Doch zum Geschehen: An einem Tag im Frühjahr 1962 versucht der 14jährige Ostberliner Schüler Wilfried Tews nach einem Sprung in die Spree an der Spandauer Sandkrugbrücke das rettende westliche Ufer im Bezirk Tiergarten schwimmend zu erreichen. Acht Angehörige der Grenztruppen der DDR eröffnen das Feuer. Unter ihnen auch der Unteroffizier Peter Göring, der, so die Akten des Staatssicherheitsdienstes, sogar zwei mal gegen die Anweisung seines Vorgesetzten seinen Standort wechselte, um seine Schussposition zu verbessern. Zwei lange Feuerstöße feuerte er noch dann auf das Kind, als dieses bereits auf Westberliner Seite aus dem Kanal gezogen worden war. Insgesamt 14 Einschüsse fanden sich im Körper des schwerverletzten Jungen – darunter im Hals, an der Schulter, im Becken, in den Oberschenkeln und den Armen. Nachdem Tews Westberliner Gewässer erreicht hatte und das Ost-Feuer anhielt, befahl der Westberliner Polizeioffizier, wie in den Anweisungen für diese Fälle vorgesehen, das Feuer zum Schutz des Flüchtlings auf die Gegenseite zu eröffnen. Der Hauptschütze Peter Göring wurde dabei tödlich getroffen, einer seiner Genossen schwer verletzt. Wilfred Tews konnte gerettet werden, musste aber als Vollinvalide und Pflegefall sein Dasein fristen.

Die Vorgänge sind durchaus vergleichbar. Die gefangenen Offiziere der US-Armee befanden sich ebenso wie der jugendliche DDR-Flüchtling in den Fängen einer totalitären Diktatur, deren Gemeinsamkeit in der Missachtung grundlegender Menschenrechte und der brutalen Verfolgung aller Andersdenkenden bis hin zum Mord bestand. Jede Form von Gegenwehr ist als Notwehr zu betrachten. Die Wächter an der Grenze wie die am Lager-Zaun waren abgestellt, um Fluchten zu verhindern und Flüchtlinge gegebenenfalls zu töten. Im Fall des Grenzers Peter Göring kam noch hinzu, dass gezielt Westberliner Gebiet unter Beschuss genommen wurde. Hier geschah der Schusswaffengebrauch durch die Westberliner Polizei nicht nur zum Schutze eines Deutschen, der von Deutschland nach Deutschland flüchten wollte und für die versuchte Wahrnehmung des Menschenrechts auf Freizügigkeit beschossen wurde, sondern auch zur Verteidigung Westberliner Territoriums.

In plastischer Weise lässt sich hier die von der Linken heute vehement bestrittene „Hufeisen-Theorie“ beweisen, dass die generelle Missachtung elementarer Grund- und Menschenrechte eines der klassischen Merkmale roter und brauner Ideologien ist. Niemand charakterisierte dies treffender als der amerikanische Historiker und Publizist Melvin J. Lasky, im Nachkriegs-Deutschland als langjähriger Herausgeber der politischen Zeitschrift Der Monat bekannt, in der er aus Anlass des Streits über den unterschiedlichen Charakter des Nationalsozialismus und linker Diktaturen feststellte: „Man mag es theoretisch drehen und wenden wie man will. Aus Sicht der Opfer, und nur diese kann der Maßstab sein, überwiegen immer die Gemeinsamkeiten.“

Eine Lehre, die im heutigen wiedervereinigten Deutschland vergessen zu sein scheint. Da gehört die Linkspartei längst zum Bund der Demokraten gegen Rechts, gilt es als fast unanständig, auf ihre Vergangenheit und damit ihre Verbrechen hinzuweisen, werden Menschen, die daran erinnern, ausgegrenzt – bis hin zur beruflichen Vernichtung. Ein besonders exemplarisches Beispiel ist die Entlassung des Leiters der Gedenkstätte in der ehemaligen U-Haftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen, Dr. Hubertus Knabe. Zu Fall gebracht wurde der über Jahre bekämpfte Historiker durch eine schmierige Intrige, die im Hause des – welch Hohn – für die Gedenkstätte zuständigen SED-Senators Lederer ausgeheckt wurde; unter wohlwollender Unterstützung der CDU-Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters.

Nur am Rande sei bemerkt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bezüglich der DDR das Wort „Unrechtsstaat“ noch nie über die Lippen gekommen ist. Mehr noch, auf einem Deutschlandtag der Jungen Union, auf dem ein deutschlandpolitisches Papier verabschiedet wurde, griff sie spontan in die Debatte ein und forderte unmittelbar vor Beschlussfassung, den Begriff Unrechtsstaat zu streichen. Als Begründung führte sie u. a. an: Ich hatte eine glückliche Kindheit in der DDR. Nur dem vehementen Widerspruch des Landesvorsitzenden der JU NRW war es zu verdanken, dass Merkel nicht durchdrang. Die Stadt Berlin wirbt mittlerweile mit dem Slogan der SED-Kampagne „Vom Ich zum Wir“ zur Enteignung der verbliebenen freien Bauernschaft zu Beginn der 60er Jahre. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Wetten, dass sich niemand findet, der die Bonzen der Linkspartei von Gysi & Co zur Distanzierung von der geschichtsvergessenen und zynischen Anzeige auffordert. Nicht weil es sinnlos wäre, sondern weil es offenbar niemanden mehr interessiert. Übrigens – bis heute ist in dem kleinen Städtchen Straußberg bei Berlin eine Straße nach dem Mauerschützen Peter Göring benannt.

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