Tichys Einblick
Soziale Hängematte

Abstimmung mit den Füßen: Kinderlose flüchten in Bürgergeld

Arbeit lohnt sich nicht in Deutschland. Vor allem bei Kinderlosen schlägt der Staat zu. Gerade die flüchten daher ins Bürgergeld – obwohl die Empfänger nahezu alle erwerbsfähig sind.

IMAGO / Zoonar

Diese Zahlen sind gesellschaftlicher Sprengstoff: 1.532.987 kinderlose Singles haben im vergangenen Jahr im Schnitt Leistungen nach SGB II bekommen – heute besser bekannt als Bürgergeld. Davon galten 1.532.160 Erwerbslose als erwerbsfähig. Sie könnten arbeiten, tun es aber nicht. In einem Land, in dem Branchen wie die Pflege oder die Gastronomie den „Arbeitskräftemangel“ als eines ihrer gravierendsten Probleme angeben. Gerade mal 827 von 1.532.987 heutigen Bürgergeldempfängern können wirklich nicht arbeiten. 0,06 Prozent.

Zwischen November und Januar fand in Deutschland ein Glaubenskrieg um die Frage statt, ob der Abstand zwischen Bürgergeld und niedrigen Löhnen angemessen ist. Das „Kiel Institute for the world economy“ schockierte mit einer Rechnung, nach der kinderlose Singles mit schlecht bezahlten Jobs weniger Geld haben, als wenn sie ins Bürgergeld gingen. Dieses Ergebnis war staatsgefährdend: Wenn Putzfrauen, Müllmänner und Hilfsarbeiter dieses Ergebnis verinnerlichen würden, dann droht vieles zusammenzubrechen.

Kurz darauf nahm das Kiel Institute for the world economy den Beitrag zurück. Stattdessen veröffentlichte es einen Beitrag, der die „vielen Hinweise“ berücksichtigte, die dem Institut gegeben worden seien. Nun war das Ergebnis staatstragend: Wenn Menschen mit niedrigen Gehältern Leistungen wie Wohngeld beantragen, lohne sich für sie Arbeit doch. Friedrich Merz (CDU), der das Institut zitiert hatte, ruderte ebenfalls zurück.

Zum Jahresbeginn legt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Stuttgart dann nach. Tenor: alles gut. Der Abstand zwischen Lohnarbeit und Bürgergeld sei ausreichend groß. Vollzeitarbeit würde sich weiterhin lohnen. Mehr Arbeitslose seien also nicht zu erwarten. So zitiert die Berliner Morgenpost das Institut. Tatsächlich gab es aber im vergangenen Monat 150.000 Arbeitslose mehr als ein Jahr davor. Ein Anstieg um rund 6 Prozent.

Ausführliche Zahlen der Bundesregierung lassen nun etwas anderes vermuten, als das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Stuttgart gesagt hat. Diese neuen Zahlen sind die Antwort auf eine Anfrage der AfD-Abgeordneten René Springer, Norbert Kleinwächter und Gerrit Huy. Sie wollten wissen, wie es rund um den SGB-II-Bezug – also heute Bürgergeld – aussieht. Die Zahlen sind dramatisch. Bereits im vergangenen Jahr hat Deutschland laut Bundesregierung 36,6 Milliarden Euro für Langzeitarbeitslose gezahlt.

Noch vor Einführung des Bürgergelds. Und selbst diese Summe ist unvollständig. Weitere 10 Milliarden Euro zahlen die Krankenkassen unterm Strich für die Gesundheitsversorgung der Empfänger von staatlichen Transfers. Also insgesamt 46,6 Milliarden Euro für Langzeitarbeitslose in einem Land mit einem „Arbeitskräftemangel“. Das ist gerade mal eine Milliarde Euro weniger, als die Ministerien für Verkehr, Digitales, Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit im nächsten Jahr zusammen ausgeben.

5,2 Millionen Menschen haben laut Bundesregierung im vergangenen Jahr im Schnitt Leistungen nach SGB-II bezogen. Davon gelten 3,7 Millionen Menschen als erwerbsfähig. In diesem Februar waren es dann schon 3,9 Millionen erwerbsfähige Empfänger von Bürgergeld. Ein Grund dafür ist die Einwanderung. Im Februar waren 1,8 Millionen Ausländer unter den 3,9 Millionen erwerbsfähigen Beziehern von Bürgergeld. Das entspricht einer Quote von 46 Prozent. Der Ausländeranteil insgesamt beträgt in Deutschland laut Statistischem Bundesamt derzeit 14 Prozent.

Das Problem wurzelt aber tiefer: 1,9 Millionen Paare mit Kindern sind aktuell im Bürgergeld. Davon gelten aber nur 1 Million als erwerbsfähig. Also nur knapp die Hälfte. Bei den kinderlosen Singles im Bürgergeld beträgt der Teil, der nicht arbeiten gehen kann, gerade mal 0,05 Prozent. Sei es, weil eine Krankheit, eine Pflege oder eine andere Situation es unmöglich machen.

Das „Kiel Institute for the world economy“ hat ursprünglich errechnet, dass eben die Mitglieder dieser Gruppe, der kinderlosen Singles, mitunter weniger als Bürgergeld verdienen, wenn sie für ein schlechtes Gehalt arbeiten gehen. Nach „Hinweisen“ hat das Institut diese Position zurückgezogen. Es habe statistische Aspekte nicht berücksichtigt. 1,53 Millionen langzeitarbeitslose Singles, von denen 1,53 Millionen erwerbsfähig sind, lassen vermuten, dass die ursprüngliche Rechnung doch gar nicht so verkehrt war. Da haben Menschen anhand ihrer eigenen Einnahmen scheinbar erkannt, dass sich Arbeit für sie nicht lohnt.

Gerrit Huy, die zu den Abgeordneten gehörte, die sich mit der Anfrage an die Bundesregierung gewandt haben, zieht daraus den Schluss: „Die aktuellen Zahlen der Bürgergeldstatistik zeigen, dass sich Arbeit im Bürgergeld nicht lohnt.“ Die Zahlen passten „nicht zum politischen Märchen der Bundesregierung, wonach wir eine zusätzliche Fachkräfteeinwanderung brauchen“. Diese würde so enden wie bisher: Viele Einwanderer landeten selbst im Bürgergeld und auch für die Einheimischen würden die Anreize wachsen, nicht zu arbeiten:

„Insbesondere Kinderlose werden in Deutschland durch eine hohe Steuerbelastung und im Vergleich zu Beschäftigten mit Kindern höhere Sozialbeiträge belastet“, sagt Huy. Mit knapp 48 Prozent sei die Steuerbelastung von Kinderlosen hierzulande ein „trauriger Weltrekord“. Da werde „der Weg für finanziell geschröpfte Arbeitnehmer ins bequem und zahnlos ausgestattete Bürgergeld leicht“. Die Massenflucht von Arbeitskräften ins Sozialsystem könne sich das in seinem Wohlstand bedrohte Deutschland aber schlichtweg nicht leisten.

Ein Dilemma, das schon Bert Brecht kannte. Seine Figur Andrea wirft Galilei vor: „Weh dem Land, das keine Helden hat.“ Galilei korrigiert ihn, es müsse heißen: „Weh dem Land, das Helden nötig hat.“ Übersetzt heißt das: Wer vor der Wahl steht, von Drogensüchtigen verkackte öffentliche Toiletten zu reinigen oder zu Hause zu bleiben und dabei mehr Geld zu haben, dem ist es kaum übel zu nehmen, wenn er das Geld nimmt und obendrein seine Ruhe hat. Es ist die Politik, die nicht funktioniert, wenn jemand nicht davon profitiert, wenn er dankenswerter Weise eine solch dreckige Aufgabe übernimmt.

Der durchschnittliche Nettoverdienst lag 2007 bei 1539 Euro, wie die Seite Sozialpolitik.aktuell.de ermittelt hat. Das ist ein Angebot der Universität Duisburg. 2021 lag der durchschnittliche Nettolohn demnach bei 2172 Euro. Er ist also um 41,1 Prozent gestiegen. Der Regelsatz für Empfänger von Hartz IV lag 2007 bei 345 Euro – nun beträgt er 502 Euro. Er ist also um 45,5 Prozent gestiegen – 4,5 Prozentpunkte mehr als der durchschnittliche Nettolohn.

Die durchschnittlichen Mieten sind seit 2007 um 17,9 Prozent gestiegen. So teilt es die Fachseite Immobilien-Erfahrung.de mit. Dem Empfänger von Bürgergeld kann das egal sein. Seine Miete zahlt das Amt. Wer arbeiten geht, zahlt die Mietsteigerungen vom Lohn. Selbst wenn er zu den Empfängern von Wohngeld gehört.

Die Ampel dreht weiter daran, dass sich Arbeit im Vergleich zum Empfang von Bürgergeld immer weniger lohnt. Zum Jahreswechsel sind die Beiträge zur Krankenkasse gestiegen, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat eine Reform versprochen. Die Beitragssätze zur Pflege hat er zum 1. Juli aber ebenfalls um 0,35 Prozent erhöht. Für Kinderlose sogar um 0,6 Prozent. Die Kassenbeiträge werden zum Jahreswechsel voraussichtlich schon wieder steigen, weil Lauterbach die versprochene Reform immer noch nicht geliefert hat.

Wer wenig verdient, wird dann neu rechnen: Ob es sich für ein paar Euro mehr lohnt, morgens aufzustehen, zur Arbeit zu fahren, hart zu buckeln, sich beschimpfen zu lassen, höhere Kosten zu haben und abends müde ins Bett zu fallen. Oder ob er am Ende dabei nicht sogar obendrauf noch weniger Geld hat. Für den deutschen Arbeitsmarkt mit seinem „Arbeitskräftemangel“ gelten dann die Worte von Brechts Galilei: Weh dem Land, das Helden nötig hat.

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