Tichys Einblick
Jahresbericht 2019

Die Bundeswehr ist unverändert nur sehr begrenzt einsatzfähig

So darf und kann es nicht weitergehen: im Interesse der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, im Interesse der NATO-Bündnisverpflichtungen, im Interesse der Truppe. Es ist das große Verdienst von Hans-Peter Bartels, die Defizite feinsäuberlich und ohne Polemik diagnostiziert zu haben.

Jahresberichtes 2019 des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Hans-Peter Bartels

imago images / Christian Thiel

Alljährlich zu Beginn des Jahres legt der Wehrbeauftragte des Bundestages eben diesem seinen Bericht für das zurückliegende Kalenderjahr vor. Zum ersten Mal geschah dies am 8. April 1960 – verantwortet vom ersten Wehrbeauftragten Helmut von Grolmann. Die Wehrbeauftragten sind quasi ein Verfassungsorgan, denn ihr Amt und ihre Aufgabe werden in Artikel 45b des Grundgesetzes definiert: „Zum Schutz der Grundrechte und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle wird ein Wehrbeauftragter des Bundestages berufen.“

Nun ist soeben der 61., 118 Seiten starke Bericht für das Jahr 2019 erschienen. Es ist dies der fünfte Jahresbericht, den Hans-Peter Bartels (58) vorlegt, der insgesamt zwölfte Wehrbeauftragte seit 1959. Bartels war im Mai 2015 in dieses Amt gewählt worden, nachdem er von 1998 bis 2015 Bundestagsabgeordneter der SPD und zuletzt Vorsitzender des Verteidigungsausschusses des Bundestages gewesen war.

Dr. Hans-Peter Bartels ist ein Profi und ein unabhängiger Kopf. Gerade deswegen haben es seine Jahresberichte in sich. Mehr noch: Er listet in seinen Berichten nicht nur die Beschwerden, Sorgen und Nöte von Soldaten auf, sondern er macht sich ernsthaft Gedanken über den Zustand der Bundeswehr als Ganzes und über die mentale Verfassung der gesamten Truppe. In Zeiten einer Verteidigungsministerin von der Leyen war das ein wichtiges Unterfangen. Bartels wurde zu dieser Zeit inoffiziell eine Art Nebenminister, auch wenn das Amt des Wehrbeauftragten nur mit 75 Prozent der Ministerbezüge vergütet wird. Man kann die Berichte des amtierenden Wehrbeauftragten insofern gar nicht ernst genug nehmen und darauf hoffen, dass Bundestag und Bundesregierung sich intensiv gerade mit dem aktuellen Bericht für 2019 befassen. Denn dieser Bericht ist für den Bundestag, für die Bundesregierung und für das Verteidigungsministerium alles andere als schmeichelhaft. Und er ist bei aller Kritik ein konstruktiver Bericht.

Greifen wir aus den 118 Seiten Markantes heraus, vor allem was die nach wie vor oft desaströse Personal- und Materialversorgung betrifft. Auf den berechtigten und wiederholt geäußerten Vorwurf von Bartels, dass die Bundeswehr ein schwerfälliges Bürokratiemonster ist, gehen wir bei anderer Gelegenheit bei TE ein. Der gesamte Bericht findet sich hier.

Acht ausgewählte Diagnosen zur Personal- und Materiallage

1. Insgesamt sind bei der Bundeswehr 21.000 Dienstposten nicht besetzt. (Die Truppenstärke liegt bei 183.000.) Anmerkung der Autoren: Das hat zu erheblichen Teilen mit der Aussetzung der Wehrpflicht zu tun. Nun hat man keinen Zugriff mehr auf junge Menschen. Konkret: Ende 2019 taten 8.337 Freiwillig Wehrdienstleistende Dienst in der Bundeswehr (2018: 8.252, 2017: 9.138). 7.642 haben ihren Dienst im Berichtsjahr aufgenommen (Vorjahr: 7.259). Alle Umfangsplanungen der Bundeswehr gehen immer noch illusionär von 12.500 einzuplanenden Freiwillig Wehrdienstleistenden aus. Die Besetzungsprobleme werden sich jedenfalls weiter vergrößern, das kann man unschwer an der Demografie ablesen. Eine allgemeine Dienstpflicht sollte endlich ernsthaft diskutiert werden. Die Armee vergammelt dagegen immer mehr, weil man die Dienstpostenspirale immer noch weiter nach oben treibt, um die Bezahlung zusätzlich zu verbessern. Dabei ist sie im Vergleich bereits durchaus konkurrenzfähig. Hier wirkt sich auch das Schlechtreden der Armee durch „vdL“ (von der Leyen) aus: „Die Truppe hat ein Haltungsproblem!“

2. Der TORNADO hat nur 88 Prozent, der EUROFIGHTER nur 80 Prozent der für das jeweilige Kampfflugzeug notwendigen Flugzeugführer. Beim Transporter A400M sind es 83 Prozent. Immer noch geht es deshalb beim Transport nicht ohne die TRANSALL C-160 (im Einsatz seit den 1960er Jahren) und die Hilfe alliierter Partner. Bei den diversen Hubschraubern der Luftwaffe sind nur 70 Prozent, beim Heer 74 Prozent besetzt, konkret beim TIGER 82 Prozent, beim Transporthubschrauber NH-90 gerade eben 59 Prozent. Bei den Hubschrauberpiloten der Marine beträgt das Ist 69 Prozent. Anmerkungen der Autoren: Viele Kündigungen erfolgen wegen zu wenig Flugstunden für die fliegenden Besatzungen auf allen Typen. Da bildet man Flugzeugführer für Millionen und mit jahrelangem Aufwand aus und muss sie dann gehen lassen, weil sie nichts zum Fliegen haben! Die zivilen Fluggesellschaften freuen sich über hochqualifiziert ausgebildete Besatzungen, der Steuerzahler blutet! Und: Tiger und NH90 sind Krücken, die noch Jahre für die Truppenverwendungsfähigkeit benötigen. Zu viele unterschiedliche Typen, zu hochkomplexe Technik: Allein das Mastvisier des deutschen Tiger ist ein eigenes Waffensystem, das niemand benötigt. Die Franzosen haben das mit ihrer Version des Tiger besser gemacht. Dass die „Altsysteme“ Tornado und CH-53 nicht genügend Ersatzteile haben, liegt ganz wesentlich am Kaputtsparen der Bundeswehr in den Nuller Jahren. Wenn Hersteller pleite gegangen sind oder Geschäftsfelder aufgegeben haben, dauert es Jahre, bis die Lager wieder aufgefüllt werden können. In dieser Situation behilft sich die Truppe schon immer durch den sog. gesteuerten Ausbau. Einzelne Flugzeuge werden zu Ausschlachtschiffen erklärt und daraus Teile entnommen.

3. Der 2017 neu eingerichtete Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum (CIR) ist mit knapp 14.500 alten und neuen Dienstposten ausgestattet. Die Personalgewinnung bleibt schwierig, denn hier konkurriert die Bundeswehr in besonderem Maße mit der Wirtschaft. Anmerkung der Autoren: Die Einrichtung des Organisationsbereiches Cyber war ein grundlegender Fehler. Cyber-Spezialisten zur Abwehr von IT-Angriffen gehören zur gesamtstaatlichen Krisenvorsorge zum BND oder zum BSI. Dort können ohne militärische Zwänge (militärische Ausbildung, Inübunghaltung etc.) Spezialisten leichter außerhalb des militärischen Dienstpostengefüges mit Zulagen gelockt oder gehalten werden. In der Bundeswehr sollten nur die Cyber-Spezialisten Dienst tun, die für militärische Systeme benötigt werden.

4. Bei den Offizieren des Militärfachlichen Dienstes liegt die Besetzungsquote bei 75 Prozent. Die Unteroffiziere ohne Portepee weisen mit 66 Prozent den niedrigsten Besetzungsgrad auf. Besonders wenig Bewegung im Vergleich zum vorherigen Berichtsjahr gab es bei den IT-Feldwebeln. Hier sind weiterhin 40 Prozent der Dienstposten nicht besetzt.

5. Von den 284 eingekauften neuen Schützenpanzern PUMA ist nur ein Viertel einsatzbereit. Bereits ausgelieferte brandneue PUMA müssen, um überhaupt einsetzbar zu sein, noch einmal für viel Geld nachgerüstet werden. Ein regulärer Ausbildungs- und Übungsbetrieb in den PUMA-Bataillonen ist aktuell nur mit erheblichen Einschränkungen möglich. Anmerkung der Autoren: Viele Waffensysteme sind übertechnisiert, der PUMA ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Ohne Bildschirme und Software ist kein Schützenpanzer mehr fahrbereit. Die „Truppenverwendungsfähigkeit“ (eingeführter Begriff) ist zu bezweifeln. Zudem treibt die wehrtechnische Industrie systematisch ein übles Spiel: Sie bietet Rüstungsprodukte vergleichsweise günstig an und spekuliert auf Änderungsverträge, sobald sie den Zuschlag hat. Diese bringen viel Geld zusätzlich, erfordern aber auch sehr viel Zeit. Was nicht funktioniert oder nicht leistungsfähig genug ist, wird eben nachgebessert, der Bund bezahlt! Die schlechte Bevorratung mit Ersatzteilen tut ein Übriges.

6. Die Marine war nie kleiner als heute. Von den 15 größeren Kampfschiffen, die auf dem Papier stehen, existieren in der Realität der Flotte 2020 (nach Außerdienststellung von sieben 122er und Indienststellung einer 125er Fregatte) neun. Anmerkung der Autoren: Es ist unwidersprochene Tatsache, dass die Industrie Systeme abliefert, die nicht einsatzreif oder truppenverwendungsfähig sind. Das beste aktuelle Beispiel sind die Sealion Hubschrauber für die Marine, die ohne brauchbare Dokumentation ausgeliefert wurden und nun herumstehen, bis der Hersteller die erforderlichen Wartungsvorschriften nachgeliefert hat.

7. Und der besondere Hammer, hier wörtlich aus dem Bericht zitiert: „Nach wie vor ist es ein Trugschluss zu glauben, jeder Soldatin und jedem Soldaten stünden in der Kaserne ein Bett und ein Spind zur Verfügung.“ Kommentar überflüssig!

8. Dass es zudem oft lange Bürokratiejahre dauert, bis die Soldaten neue Winterkleidung, neue Skier, neue Unterwäsche, neue Stiefel, neue Zelte, neue Nachtsichtgeräte usw. bekommen, kritisiert Bartels ebenfalls. Hier schlägt er das Prinzip „Ikea“ vor: Angebote durchforsten und einkaufen! Vor allem kann und darf es nicht sein, dass Soldaten dienstlich notwendige Bekleidungsstücke aus der eigenen Kasse bezahlen, weil sie nicht auf die Lieferung „von oben“ warten wollen.

So darf und kann es nicht weitergehen: im Interesse der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, im Interesse der NATO-Bündnisverpflichtungen, im Interesse der Truppe. Es ist das große Verdienst von Hans-Peter Bartels, die Defizite feinsäuberlich und ohne Polemik diagnostiziert zu haben. Man kann nur hoffen, dass Bartels, dessen erste Amtszeit im Mai 2020 abläuft, vom Bundestag in eine zweite Amtszeit geschickt wird. Die Truppe braucht solche Leute, und die Verteidigungsministerin braucht einen Bartels. Ob Bartels in eine zweite Amtszeit geschickt wird und wer jetzt schon um seine Nachfolge rudert, darüber wird TE bei Gelegenheit berichten.