Tichys Einblick
Die Vermischung unterschiedlicher Probleme

Hart aber Fair: Leben, Leiden oder Suizid?

Bei Hart aber Fair wird über Sterbehilfe gestritten. Doch es werden ein fiktiver und ein wirklicher Fall vermischt, was die Diskussion erschwert.

Sreenshot ARD/Hart aber Fair

Literatur entscheidet gelegentlich über Leben und Tod. Nachdem Johann Wolfgang von Goethe 1774 seinen Roman „Die Leiden des Jungen Werther“ veröffentlicht hatte, soll es zu einer europaweiten Welle von Selbstmorden gekommen sein. Die Stadt Leipzig verbot das Buch ein Jahr später.

Nun ist es 2020 und der ÖRR beschäftigt sich auch mit der Frage des Freitods, dieses Mal in der Form der Film-Adaption des Theaterstücks „GOTT“ von Ferdinand von Schirach. Der Protagonist ist hier nicht 18 Jahre alt wie vielleicht der dem Liebeskummer verfallene Werther, sondern 78. Doch auch Richard Gärtner empfindet Liebeskummer, denn seine Frau ist vor drei Jahren gestorben. Sie erlag einem Hirntumor, er selbst ist kerngesund: Sterben möchte er trotzdem, er kann ohne seine Frau Elisabeth nicht leben. Deshalb verlangt er von seiner Ärztin ein tödliches Medikament. Der Deutsche Ethikrat verhandelt darüber, es werden Argumente in die eine und die andere Richtung präsentiert. Am Ende dieses Kammerstücks steht kein Urteil, sondern die Aufforderung an den Zuschauer, sich selbst eine Meinung zu bilden.

Hart aber Fair: Leben oder Freitod?

Hier knüpft Frank Plasberg in seiner Talkshow Hart aber Fair an und gibt die Frage nach Leben oder Freitod an die Gäste weiter. Sie sollen aber nicht nur über diesen fiktiven Fall eines Mannes entscheiden, der seiner Frau folgen möchte, sondern werden auch mit einem realen Fall konfrontiert. Olaf Sander, der auch Teil der Runde ist, half seiner Mutter beim Suizid. „Sie hat zwei Söhne groß gezogen, zwei Männer überlebt“, sagt er, doch die Folgen einer Polioinfektion in der Kindheit machten ihr das ganze Leben schon zu schaffen. Als es schließlich nicht mehr zu ertragen war, sagte sie: „Ich möchte jetzt gehen“. Es sei doch ein Inbegriff der Liebe, so ihr Sohn, ihr zu helfen – ein Inbegriff, der ihm nicht leicht gefallen sei. Die Diskussion ist schwer. Wer verwehrt einer Frau, die alles erlebt und alles geleistet hat, den Wunsch nach ihrem Tod?

Einzig Georg Bätzing, katholischer Bischof von Limburg und Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz argumentiert aus einer Position des Glaubens heraus gegen den Suizid. Der Verlust der Ehefrau sei für Gärtner ein großer Verlust, aber habe denn sein ganzes Leben nur aus ihr bestanden? Was ist mit den Kindern, Enkeln? Daher nennt er das Theaterstück eine „karikierte Situation“. Für jene, die leiden wie Frau Sander, gebe es Hospize, die helfen, wo es geht. „An der Hand eines Menschen zu sterben, das ist etwas anderes als durch die Hand eines Menschen zu sterben“, fasst er seinen Standpunkt zusammen.

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Die anderen Gesprächsteilnehmer sind zu diesem Zeitpunkt noch relativ verhalten in ihrer Argumentation. Olaf Sander pocht auf den würdevollen, gewünschten Tod, den er seiner Mutter ermöglichen konnte. Susanne Johna, Oberärztin und Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, will vor allem nicht, dass es Ärzte sind, die die tödlichen Medikamente verabreichen, da „Suizid nicht zu den Aufgaben eines Arztes gehört“. Außerdem sei die Pflege in Hospizen in den letzten Jahren weit fortgeschritten, so dass niemand leiden müsse.

Die Diskussion ist wie festgefahren, auch weil es sich Frank Plasberg zu einfach macht und den moralischen Argumenten der Ärztin und des Bischofs wenig Gewicht zukommen lassen will. Für ihn steht das Recht auf würdevollen Tod und die freie Verfügbarkeit des Lebens über ihren Bedenken.

Letzte Fragen sind ernste Fragen

Doch gerade wenn es um den Tod geht, gilt: Letzte Fragen sind ernste Fragen. Gegen Ende bei Hart aber Fair wird dann doch gestritten. Bätzing und Johna geben zu bedenken, dass der Suizid endgültig ist – Suizidwünsche sind es oft jedoch nicht, sondern der Ausdruck einer tiefen Lebenskrise, die auch überwunden werden kann. Diese Möglichkeit nimmt man den Menschen durch den Freitod. Es ist die Schwäche der Sendung, dass sie zwei unterschiedliche Fälle vermischt: Den der wirklichen Frau Sander, die ihr körperliches Leid verkürzt, und den des fiktiven Richard Gärtner, der des Lebens müde ist, aber noch über die Trauer hinauswachsen könnte.

Johna formuliert die Befürchtung, dass mit einer Ausweitung der Sterbehilfe die Frage nicht mehr ist: „so sterben oder Suizid“, sondern: „so leben oder Suizid“.

Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik an der Universität Münster, versucht die Bedenken wegzuwischen. Ohne Zugang zu einem einfachen „Notausgang“ würde ein Mensch wie Gärtner vielleicht den „Brutalsuizid“ wählen – Brutalsuizid, so nennt die Runde es, wenn jemand sich vor die Bahn wirft oder von der Brücke stürzt. Dabei scheint Schöne-Seifert zu vergessen, das jeder Tod eines Menschen eine Tragik ist: ob durch Morphine oder ICE. Die Unannehmlichkeiten, die den Hinterbliebenen durch die Methode des Suizid entstehen, sind natürlich eine andere Kategorie als das verlorene Leben.

Die Gefahr durch gesellschaftlichen Druck

Der Bischof fürchtet einen “Dammbruch“. Den würde es so nicht geben, hält Sander entgegen und spricht von den Menschen, die ihr Leid abkürzen wollen. In den Niederlanden würden nur vier Prozent aller Todesfälle auf die Sterbehilfe entfallen, so Schöne-Seifert. Das wären in Deutschland 90 assistierte Selbstmorde pro Tag, rechnet Johna vor. Wenn man das in den Zusammenhang setzt: In der vergangenen Woche starben gut 220 Personen täglich an oder mit Corona. Die Auslegungen des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Sterbehilfe sind auch viel weiter gefasst als die niederländischen Regeln.

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Das Recht auf den selbstbestimmten Tod hat den Richtern zufolge jeder, unabhängig von Alter, Gesundheitszustand und Verfassung. Und wenn der betreute Suizid zur gesellschaftlichen Norm wird, wächst dann nicht auch der Druck auf Alte und Schwache, diesen Weg zu wählen? Diese Befürchtung äußern jedenfalls Bätzing und Johna. Es muss kein offener Druck sein, durch eine Krankenkasse, die sagt „stirb oder zahle deine Behandlung selbst“, es gibt den impliziten Druck durch Kinder, die erben wollen, durch eine Gesellschaft, der man nicht zu Last fallen will, durch sich verschlechternde Lebensqualität. Ein Druck, vor dem, so Bätzing, durchaus Menschen aus den Niederlanden in deutsche Altersheime in Grenznähe fliehen. „Weil sie sich hier sicher fühlen“.

Das will Schöne-Seifert nicht stehen lassen, nennt es „Einzelfälle“. Aber wie viele Tote wegen gesellschaftlichem Druck ist man bereit zuzulassen? Wie viel abgekürztes Leid der einen ist absichtlich beendetes Leben der anderen wert? Eine zynische Rechnung, aber eine, die man beantworten muss. Der Runde bei Hart aber Fair bleibt eine Antwort erspart, denn die Sendezeit ist vorbei.


Sollten Sie das Gefühl haben, dass Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie unbedingt die Telefonseelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 bekommen Sie Hilfe von Beratern, die Ihnen Hilfe bei den nächsten Schritten anbieten können. Hilfsangebote gibt es außerdem bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Im Netz gibt es – Beispielsweise bei der Stiftung Deutsche Depressionshilfe – auch ein Forum, in dem sich Betroffene austauschen können.

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