Tichys Einblick
Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit

Harbarth: Freiheitsrechte können „Verfassungsordnung delegitimieren“. Konzertierte Aktion gegen Freiheit

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hielt eine programmatische Rede zur Begrenzung der Grundrechte. Seine Aussagen stehen im Gegensatz zu einem zentralen früheren Urteil des Gerichts. Die Meinungsfreiheit soll offenbar in einer konzertierten Aktion von Gericht und Kanzleramt eingeschränkt werden.

Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, aufgenommen am 11. März 2022 in Berlin

IMAGO / Political-Moments

Im Hamburger Übersee-Club trifft sich die Gesellschaft der Hansestadt regelmäßig, um Vorträge wichtiger Persönlichkeiten zu hören. Am 14. September sprach der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth zum Thema der Grundrechte. Aktive Verfassungsrichter äußern sich nur selten programmatisch. Tun sie es doch, dann besitzt jeder öffentliche Auftritt Gewicht, zumal der des Präsidenten.

5 vor 12
Grundgesetz: Wer hat noch nicht, wer kriegt noch mal?
In seiner Rede stellte Harbarth die These auf, der Gebrauch der Freiheitsrechte durch Bürger könnte dazu geeignet sein, die Verfassungsordnung zu delegitimieren. Er meinte: „Der wehrhafte Verfassungsstaat muss sich den Feinden von Recht und Rechtsstaatlichkeit konsequent entgegenstellen.“ Dabei bezog er sich auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz im April 2022. Darin hatte das Gericht Teile des Gesetzes als verfassungswidrig verworfen, gleichzeitig aber auch festgestellt, dass der Staat Grundrechte zur Sicherung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beschränken dürfe.

Grundsätzlich ist diese Beschränkung möglich. Entscheidend ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht noch vor einigen Jahren den Gebrauch der Grundrechte des Bürgers gegenüber dem Staat sehr weit ausgelegt hatte, insbesondere das der Meinungsäußerungsfreiheit. Eine bloß drohende Delegitimierung der Verfassungsordnung genügte ihm damals ausdrücklich noch nicht, um den Grundrechtsgebrauch einzuschränken. Damals billigten die Richter im Gegenteil sogar denjenigen Meinungsfreiheit zu, die die Verfassungsordnung in Teilen oder ganz ablehnen.

In seinem Beschluss vom 28. November 2011 zur Meinungsfreiheit führte das Gericht aus:

„Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind … Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt. (…) Allein die Wertlosigkeit oder auch Gefährlichkeit von Meinungen als solche ist kein Grund, diese zu beschränken. Bei Staatsschutznormen ist dabei besonders sorgfältig zwischen einer – wie verfehlt auch immer erscheinenden – Polemik auf der einen Seite und einer Beschimpfung oder böswilligen Verächtlichmachung auf der anderen Seite zu unterscheiden, weil Art. 5 Abs. 1 GG gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.“

Formal gilt das Urteil noch immer. Allerdings erklärte auch Bundeskanzler Olaf Scholz per Twitter am 14. September, also am gleichen Tag, an dem Harbarth seine Rede hielt, dass er die Grenzen der Meinungsfreiheit offenbar anders ziehen möchte als die Verfassungsrichter von 2011. „Wenn Kundgebungen von Extremisten, Querdenkern und Verfassungsfeinden gekapert werden“, schrieb er mit Blick auf die Demonstrationen gegen die Energiepolitik seiner Regierung, „dann nehmen wir das nicht hin. Denn unsere Demokratie ist wehrhaft.“

Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit gelten allerdings auch für diejenigen, die ein Kanzler für Querdenker und Verfassungsfeinde hält. Was genau er mit seiner Ankündigung meint, seine Regierung werde es nicht „hinnehmen“, wenn bestimmte Personen demonstrieren, führte er nicht näher aus.

Im vergangenen Jahr waren mehrere Kundgebungen in verfassungsrechtlich fragwürdiger Weise unter dem Hinweis auf das Infektionsschutzgesetz untersagt worden.

Deutschland ist ein Land, dessen Grundrechte offenkundig gerade eingedampft werden sollen. Auch Marco Buschmann, FDP-Justizminister und als solcher eigentlich Hüter der Verfassung, sprach von einer „grundrechtsschonenden Gesetzgebung“ im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes. Das erschien als Ausrutscher eines wenig redegewandten Funktionärs. Anfangs machte man sich noch lustig über die Gleichsetzung von Gesetzgebung und Matratzenschoner. Doch in Deutschland überholt mittlerweile die Politik die Satire. Sehen Sie selbst. 

Anzeige