Tichys Einblick
Flucht und illegale Migration

Giffey: Länderkapazitäten nahezu „ausgeschöpft“ – Bundes-SPD sieht kein Problem

Länder und Kommunen sehen sich überlastet vom doppelten Ansturm durch Migranten und Flüchtlinge. Innenministerin Nancy Faeser handelt halbherzig zur Eindämmung der Balkanroute. Scharfe Kritik kommt von Union und AfD, aber auch der Koalitionspartner FDP würde sich zügigere Verfahren wünschen.

Franziska Giffey, SPD, Regierende Bürgermeisterin von Berlin, 07.10.2022

IMAGO / Christian Spicker
Berlin kann seinem Rang als „Hauptstadt der Migranten“ immer weniger gerecht werden. Ausgerechnet die Stadt, die in ihren Erstaufnahmeeinrichtungen auf einen besonderen Geist des Willkommens achtet und die ankommenden Migranten so bald wie möglich mit allem Nötigen versorgen und ausstatten will. Aber nun ist Berlin fast schon voll belegt, bald sicher überbelegt. Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) betätigt höchstpersönlich den Alarmknopf. Ihr könnte bald eine Neuwahl ins Haus stehen, denn die letzten Wahlen in der Stadt liefen bekanntlich eher suboptimal, wie die Recherchen von TE ans Licht brachten. Das gilt übrigens auch für die Bundestagswahl, aber die muss vielleicht nicht vollständig wiederholt werden.

Nun also Übungen in sachtem Populismus oder auch Jammern auf mittlerem Niveau, nach dem Motto: Wir haben keinen Platz mehr. Allein 100.000 Ukrainer haben laut Giffey heute ihren ersten Wohnsitz in Berlin. Das entspricht drei Prozent der Wohnbevölkerung. Hinzu kämen noch die Asylbewerber, die das Land durch den nahegelegenen Flughafen und den Königsteiner Schlüssel zusätzlich aufnehmen muss. Aber die Ressourcen Berlins sind angespannt, wo nicht erschöpft. In der Bild am Sonntag ruft Giffey nun nach „weiteren Immobilien des Bundes, um Menschen gut unterzubringen“. Dabei hatte ihre Parteifreundin im Innenministerium, Nancy Faeser, doch genau das bereits auf dem jüngsten „Flüchtlingsgipfel“ zugesagt. Nur ob für Berlin noch etwas herausspringt, weiß man freilich nicht.

Quasi alternativ fordert Giffey für die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen die Aussetzung des Königsteiner Schlüssels, also keine Asylbewerber-Zuweisungen mehr aus den südlichen Grenzländern Bayern und Sachsen. Das lehnte CDU-Innenexperte Alexander Throm ab: Alle Länder seien von der aktuellen Migration belastet: „Wenn die Stadtstaaten weniger Flüchtlinge aufnehmen wollen, dann sollten die SPD-Bürgermeister auf ihre SPD-Innenministerin zugehen, um sie zu einer Umkehr bei ihrer offenen Asylpolitik zu bewegen.“

Throm fordert gar die Beendigung des „migrationspolitischen Sonderwegs“ Deutschlands in Europa. Man dürfe nicht weitere Anreize durch ein erleichtertes Bleiberecht schaffen und müsse die Migration über die Balkanroute stärker begrenzen. Auch AfD-Innenexperte Gottfried Curio forderte ein Ende der „Pull-Signale“ und ein Ende von Resettlement- und Relocation-Programmen aller Art. Schon früher hat Curio die „Politik der null Abschiebungen und höchsten Sozialleistungen“ kritisiert, die die Bundesregierung verfolge. Stattdessen forciere die Regierung „die Überlastung aus freien Stücken immer weiter … etwa mit der neuen Baerbock-Faeser-Dauerluftbrücke nach Afghanistan“.

Konstantin Kuhle (FDP) setzt auf straffere Asylverfahren

Vor allem für den Winter traut sich niemand eine Vorhersage zu. Wenn sich der Krieg in der Ukraine verschärfen sollte, könnten weitere Flüchtlinge in die EU strömen – über die 6,3 Millionen hinaus, die schon kamen. „Wir können nicht ausschließen, dass es im Winter zu einem sprunghaften Anstieg der Ukraine-Geflüchteten kommen wird“, sagt auch die Berliner Integrationssenatorin Katja Kipping von der Linkspartei. Russland könnte das angeblich befeuern, indem es vitale Infrastruktur wie die Strom-, Wärme- und Wasserversorgung angreift.

Im September kamen noch 10.000 Ukraine-Flüchtlinge in Berlin an. Hinzu kommt die illegale Migration über die (neue) Balkanroute, die ebenfalls nicht abzunehmen scheint. Von 28.000 Plätzen in Berliner „Flüchtlingsunterkünften“ sind noch 200, also praktisch keine mehr frei. Zugleich übernachten im Ankunftszentrum auf dem Flughafen Tegel allnächtlich 600 bis 700. Aber das sind provisorische Unterkünfte, die zudem ja ständig von neuen Neuankömmlingen nachgefragt werden. Kipping will das Angebot in Tegel auf 2.700 Plätze steigern. Aber wie lange wird man damit über die Runden kommen?

Aber die Lage ändert sich auch, wenn in der Ukraine alles beim Alten bleiben sollte. Laut dem FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle drängen derzeit „immer mehr ukrainische Vertriebene“ aus der privaten in die staatliche Unterbringung, was ja auch gewissermaßen abzusehen war. Denn auf die Dauer werden auch die grünsten Gutbürger sich das Gästezimmer oder den Partykeller nicht für letztlich wildfremde Gäste aufsparen.

Die Unterbringung der Ukrainer belastet, ja „überlastet“ laut Kuhle inzwischen die Kommunen, vor allem im Zusammenspiel mit den gestiegenen Asylbewerberzahlen. Kuhle wünscht sich deshalb eine Beschleunigung der Asylverfahren, die nach seiner Theorie in einem zweiten Schritt zu Rückreisen führen wird: „Wenn zügiger feststeht, dass kein Bleiberecht gegeben ist, müssen die entsprechenden Personen Deutschland wieder verlassen.“ Aber das ist eben wieder so eine kleine FDP-Theorie, die die im Koalitionsvertrag versprochene Rückführungsoffensive noch nicht zur Realität werden lässt. Dazu wären mehr Schritte nötig. Erst mal wären die öffentlichen Forderungen der FDP-Bundesminister zu dem Thema interessant zu hören.

SPD-Experte: Deutschland ist im Gegensatz zu 2015 vorbereitet

In vielen anderen Kommunen, die über weniger ausrangierte Großimmobilien als die Hauptstadt verfügen, wächst die Ungeduld angesichts der schon begonnenen Belegung von Turn- und Mehrzweckhallen, die dann offenbar für die normale Nutzung ausfallen. Das wären dann wahre Platzprobleme und „Einschränkungen“ für Sportvereine und andere, wie sie sich der baden-württembergische Ministerpräsident und Öko-Ex-Maoist Kretschmann nicht schöner ausmalen könnte.

Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) sieht bereits den negativen „Rekord“ der Jahre 2015 und 2016 wackeln: 2,1 Millionen Migranten kamen damals binnen eines Jahres ins Land. Entweder noch in diesem Jahr oder im nächsten könnten insgesamt mehr Ukraine-Flüchtlinge und illegale Migranten nach Deutschland gekommen sein.

Aber laut der SPD-Fraktion im Bundestag gibt es – im Gegensatz zur Stimmung etwa Franziska Giffeys – eigentlich keine Probleme. Fraktionsvize Dirk Wiese räumte zwar gegenüber der Welt „enorme Herausforderungen“ ein, aber im Gegensatz zu 2015 sei die Bundesrepublik heute gut vorbereitet, auch die Finanzierung – natürlich auf Kosten des Steuerzahlers – will er zeitnah klären. Dafür ist schon ein zweiter Bund-Länder-Kommunen-Gipfel geplant.

Angeblich geht das Migrationsgeschehen auf dem Westbalkan auch schon zurück, so Wiese, den Initiativen Nancy Faesers sei Dank. Dabei will doch Serbien die Visa-Regelungen beispielsweise für Tunesien erst im November verschärfen. Und das will außerdem der österreichische Bundeskanzler Nehammer (ÖVP) erreicht haben. Aber egal, es kann sich jedenfalls noch nicht auswirken. Wiese versucht offenkundig, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.

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Nancy Faeser will ebenfalls ein ernstes Wörtchen mit Serbien gesprochen haben, weil das Land eine Visa-Praxis habe, die „nicht sehr schön ist“. Serbien hatte die Visa-Anforderungen zuletzt für mehr als 100 Staaten gelockert, darunter klassische Auswandererländer wie der Irak, Afghanistan, die Türkei, Bangladesch und Indien. Besonders störend für Faeser: Serbien orientierte sich bei dieser Vergünstigung an der Nicht-Anerkennung des Kosovo durch die betreffenden Staaten. Außenpolitik als Interessenpolitik – das ist im rot-grünen Evangelium nach Nancy „nicht akzeptabel“ oder eben „nicht schön“.

Zur Herausforderung wird diese Visa-Praxis aber vor allem im Verbund mit einer hilflosen Grenzpolitik der EU und insbesondere Deutschlands, das wiederum versucht hat, seinen Grenzschutz in das (diesmal nahe) Ausland zu exportieren. An der deutsch-tschechischen Grenze will Faeser keine Grenzkontrollen einführen, dafür hat sie angeblich in Österreich und Tschechien auf Kontrollen zur Slowakei gedrängt.

Einem ähnlichen Muster folgt die Auseinandersetzung mit Serbien. Müsste die Innenministerin nicht unter diesen Bedingungen auch in Griechenland auf besseren Kontrollen zur Türkei beharren? Doch diese Grenze scheint ein Erbhof der Außenministerin zu sein, die sich dort gegen „Pushbacks“ aussprechen darf, während sie von den „Push-forwards“ der türkischen Gendarmerie schweigt.

Zum Hotspot Serbien kommt eine undichte Grenze zur Türkei hinzu

Insgesamt sind in diesem Jahr schon mehr als 106.000 Migranten über die Westbalkanroute in die EU gelangt (Zahlen von Januar bis September). Das entspricht einer Steigerung um 170 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dass Serbien inzwischen die Visa-Freiheit für Tunesien und Burundi zurücknehmen will, heftet sich der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer als Erfolg an die Brust. Ob Faesers scheltende Worte in Richtung Belgrad hier mitgewirkt haben, ist unbekannt. Die Ministerin hatte vollmundig gefordert: „Serbien muss seine Visapraxis an die EU anpassen.“ Oder auch: „Sie wollen ja was von der EU.“ Vielleicht langfristig, aber zunächst will die EU etwas von Serbien.

Während die illegale Zuwanderung im westlichen Mittelmeer und auf den Kanaren sogar zurückging (um 34 bzw. sechs Prozent), stieg sie im zentralen Mittelmeer um 42 Prozent im Vergleich zu 2021, im östlichen Mittelmeer gar um 118 Prozent, wobei der größte Anteil hier auf Zypern entfällt: An die 20.000 Migranten musste der Inselstaat demnach vor allem an der Demarkationslinie im Landesinneren aufnehmen. Griechenland meldete dagegen bis einschließlich August nur knapp 8.900 neue illegale Ankunften.

Die Dunkelziffer derjenigen, die sich direkt auf den Westbalkan weiterschleppen lassen, bleibt allerdings unbekannt. Sie tauchen aber durchaus an der deutsch-tschechischen Grenze auf, etwa Rachman aus dem Irak, der insgesamt 2.600 Euro für Autofahrten aus der Türkei über Griechenland nach Serbien bezahlte, wie er dem MDR mitteilte. Daneben wird auch von Syrern berichtet, die aus der Türkei weiterziehen, weil die Situation dort für sie vor den kommenden Wahlen unangenehmer geworden sei. In Deutschland kommen immer noch vor allem Syrer, Afghanen und Iraker an.

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