Tichys Einblick
"Sozial-ökologische Transformation"

„Illiberaler Moralismus“ – Kritik in den eigenen Reihen des Ethikrates

Im Ethikrat gab es drei Gegenstimmen, die ein Sondervotum gegen die Transformation einlegten: Der Begriff „Klimagerechtigkeit“ sei zu unbestimmt und könnte soziale Ungerechtigkeit befördern. Sie bemängeln einen „illiberalen Moralismus“. TE dokumentiert den Text in Gänze.

Bericht zur Stellungnahme zur Klimagerechtigkeit des Deutschen Ethikrats, Berlin, 13.03.2024

IMAGO / Political-Moments
Wir teilen die Auffassung des Mehrheitsvotums, dass die Bewältigung des Klimawandels und seiner Folgen zu den großen Menschheitsaufgaben der Gegenwart und Zukunft gehört und dass hierbei grundlegende Gerechtigkeitsfragen zu beantworten sind. Ebenso stimmen wir zu, dass angesichts der Kompetenzen des Deutschen Ethikrats sein Beitrag nur darin liegen kann, eine verlässliche ethische Orientierung für die notwendigen Abwägungsentscheidungen zu liefern.

Bedauerlicherweise bleibt jedoch das Mehrheitsvotum in seinen eigenen Ausführungen hinter diesem selbst gesetzten Ziel gleich in mehrfacher Hinsicht zurück. Der in der Stellungnahme skizzierte Ansatz weist einige empfindliche argumentative Probleme und normative Leerstellen auf. Darüber hinaus thematisiert sie zwar Fragen individueller wie kollektiver Verantwortung im Kontext des Klimawandels. Deren Beantwortung stößt allerdings ihrerseits auf Kritik.

I. Zum Umgang mit Gerechtigkeitsfragen

Der zentrale Topos der Klimagerechtigkeit bleibt erstaunlich unterbestimmt. Erstens wird nicht erörtert, wie sich die auf „Klimagerechtigkeit“ bezogenen Anstrengungen zu anderen „großen Menschheitsaufgaben“ – etwa dem Kampf gegen Hunger – verhalten bzw. konkret, warum ihnen oberste Priorität zukommt.

Nachvollziehbare Kriterien hierfür werden nicht benannt, geschweige denn näher expliziert. Ähnliches gilt für die Frage der Risikobewertung (etwa im Vergleich zur friedlichen Nutzung der Kernkraft), so wie insgesamt Innovationsaspekte nur am Rande auftauchen. Auch das Verhältnis von Mitigation und Adaptation, die sehr unterschiedliche Gerechtigkeitsprobleme aufwerfen, ist unterbelichtet.

Zweitens versucht das Mehrheitsvotum, egalitaristische, suffizientaristische und prioritaristische Überlegungen zu einer „um das Prinzip gerechter demokratischer Teilhabe und Beteiligung zu erweitern(den)“ (Abschnitt 3.4, Absatz 4) „suffizientaristische(n) Schwellenwertkonzeption der Klimagerechtigkeit“ (Abschnitt 3.2, Absatz 7) zu verbinden.

Eine über den akademischen Jargon hinausgehende verständliche Erläuterung liefert die Stellungnahme indes nicht. Insbesondere bleibt völlig unklar, wie die für das vorgeschlagene Gerechtigkeitskonzept elementaren verteilungsrelevanten Schwellenwerte für die einzelnen Güter jeweils konkret ermittelt werden sollen.

Da die Bedeutung und der praktische (Nutz-)Wert einzelner Güterausstattungen aufgrund der extrem unterschiedlichen Handlungsumstände und Lebensbedingungen in den einzelnen Weltregionen, aber auch bereits im nationalen Raum stark variieren, werden in der jüngeren Gerechtigkeitsdiskussion nicht die Güter als solche, sondern ihr Verhältnis zur Entwicklung bestimmter Fähigkeiten als entscheidend angesehen.

Es geht aber nicht nur um die Frage, in welcher semantischen Währung der Verteilungsdiskurs selbst überhaupt zu führen ist, sondern auch um dessen normativen Bezugspunkt. Je nachdem, ob dabei der basale Begriff der ‚Würde‘, die in ihrem Umfang notorisch umstrittenen ‚Menschenrechte‘ oder gar die kulturell bedingten Vorstellungen eines ‚guten Lebens‘ herangezogen werden, ergeben sich jeweils ganz unterschiedliche Verteilungsarrangements.

Um die politischen Zielkonflikte in den drei zentralen Bereichen der innergesellschaftlichen, der internationalen und der intergenerationellen Gerechtigkeit angemessen moderieren zu können, bedarf es jenseits der stets gebotenen Sicherung eines Existenzminimums für alle Beteiligten einer wesentlich differenzierteren normativen Kriteriologie, um alternative Handlungsstrategien bewerten und die zeitlich zerdehnten Transformationsprozesse entsprechend gestalten zu können.

Da die Stellungnahme selbst einräumt, dass die hier als Bezugsgrößen herangezogenen Theoriemodelle des Egalitarismus, des Suffizientarismus und des Prioritarismus „unterschiedliche, gelegentlich sogar konkurrierende Positionen“ (Abschnitt 3.2, Absatz 1) hinsichtlich der Bestimmung und Akzentuierung der unterschiedliche Aspekte und Dimensionen von Gerechtigkeit vertreten, reicht es nicht aus, einfach nur die verschiedenen Möglichkeiten einer Gewichtung von Gleichheits-, Verursacher-, Nutznießer- und Leistungsfähigkeits-Prinzip zu erwähnen (vgl. Abschnitt 2.7) und dann in Empfehlung Nr. 12 auf die allgemeine free-rider-Problematik hinzuweisen, der selbstverständlich alle diese Theoriemodelle ausgesetzt sind.

Eine direkte Folge des Fehlens einer überzeugenden Kriteriologie zur Vornahme begründeter Abwägungsentscheidungen zwischen konkurrierenden Handlungsstrategien besteht drittens im rein appellativen Charakter der Ausführungen insbesondere zur internationalen und intergenerationellen Gerechtigkeit.

Die Forderung einer Intensivierung der Anstrengungen zum Abschluss globaler Abkommen für die Begrenzung der Erwärmung ist ebenso allgemein wie wohlfeil, solange überhaupt nicht absehbar ist, dass sich die größten CO2 -Emittenten in solche Abkommen einbinden lassen.

Dasselbe gilt für den Hinweis, die wohlhabenden Industriestaaten müssten die Länder des Globalen Südens darin „unterstützen, die notwendigen Investitionen zur Emissionsreduzierung und Anpassung an den Klimawandel zu finanzieren“ (Empfehlung Nr. 11). Auch hier wüsste man gerne Konkreteres darüber, wie eine solche Unterstützung angesichts sehr unterschiedlicher nationaler Strategien etwa im Blick auf den auf der letzten Weltklimakonferenz COP 28 eingerichteten Ausgleichsfonds für Schäden und Verluste näherhin aussehen sollte.

Auch die Überlegungen um die intergenerationelle Gerechtigkeit erschöpfen sich weitgehend in einigen Hinweisen zur Verbesserung der politischen Repräsentanz jüngerer oder noch nicht geborener Personen, ohne die ethisch relevanten Fragen einer gerechten Verteilung verschiedener Anpassungsmaßnahmen über eine längere Generationenfolge auch nur für einen einzigen Handlungsbereich zu beantworten.

Erschwerend hinzu tritt das weitgehende Fehlen kohärenter Strukturüberlegungen, wie die unterschiedlichen gerechtigkeitstheoretischen Ansätze sowie die jeweils betroffenen Rechtsgüter in ein prozedural und materiell überzeugendes Verhältnis gesetzt werden könnten. Abgesehen davon, dass der epistemische Status unterschiedlich weit in die Zukunft ausgreifender klimawissenschaftlicher Prognosen nicht angemessen berücksichtigt wird, fehlen weitergehende Überlegungen zum Verhältnis von wissenschaftlicher und politischer Rationalität.

Gänzlich unbeantwortet bleibt ferner die Frage, wie Wahrscheinlichkeitsaspekte das Gewicht bestimmter Gerechtigkeitsüberlegungen beeinflussen können – obwohl dies für die deontische Qualifikation (Zulässigkeit oder Gebotenheit) einer Maßnahme ersichtlich von höchster Wichtigkeit ist. Entsprechendes gilt für die unzureichende Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen einschlägigen (rechts)normativen Ebenen, beispielsweise das Verhältnis von Völker- und Verfassungsrecht.

Viertens kommt zu kurz, dass die befürwortete Klimaschutzpolitik in sozialer Hinsicht deutlich ungleiche Auswirkungen hat. Stattdessen beantwortet die Stellungnahme Fragen der innergesellschaftlichen Gerechtigkeit aus einer einseitig-elitären Perspektive. Die in Abschnitt 2.3 angeführte Wahlfreiheit im Hinblick auf mehr oder weniger CO2-lastige Lebenspraktiken ist für die meisten Menschen in Deutschland aufgrund ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht gegeben, selbst dann nicht, wenn ihnen finanzielle Hilfen bereitgestellt werden.

Denn diese können – um nur ein Beispiel zu nennen – nicht ausgleichen, wenn Menschen aufgrund von Krankheit, Alter oder Wohnlage auf private Pkws angewiesen sind. Es ist schlicht unzureichend, auf erwartbare Unfreiheit und Ungleichheit mit dem bloßen Vorschlag monetärer Kompensation zu reagieren, zumal diese voraussichtlich weder alle Verluste ausgleichen wird noch in ihrer konkreten Verteilungslogik näher bestimmt ist.

Darüber hinaus droht mit der umfangreichen CO2-Bepreisung, wie sie in der Empfehlung Nr. 4 angelegt ist, ein besonders eingriffsintensives Instrument zur umfassenden Steuerung und Überwachung privater Lebensführung etabliert zu werden – eine Gefahr, die die Stellungnahme mit keinem Wort erwähnt.

II. Zum Umgang mit Verantwortung

Auch die komplexen Dimensionen individueller wie kollektiver Verantwortung im Zusammenhang mit den durch den Klimawandel induzierten Herausforderungen werden in der Stellungnahme unzureichend behandelt.

Dies betrifft erstens die normative Einhegung des Befundes, dass selbst besonders umfangreiche nationale Anstrengungen zur Verbesserung der eigenen CO2-Bilanz einen sehr geringen Einfluss auf den globalen CO2-Ausstoß haben (und zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit andernorts [über]kompensiert werden, weil beispielsweise fossile Brennstoffe nicht einfach verschwinden).

Eingriffe in die individuelle Freiheit der Bürger lassen sich auf dieser Basis kaum legitimieren; sie sind in Ermangelung einer Eignung zur Erreichung des erklärten Ziels Klimaschutz schlicht nicht verhältnismäßig. Hieran ändert entgegen der Stellungnahme (Abschnitt 4.3.1, Absatz 8) auch die „Dringlichkeit“ des Problems nichts: Zeitdruck macht eine ineffektive Maßnahme nicht zu einer effektiven.

Die Hoffnung, Deutschland könnte durch seine nationale Klimapolitik eine globale Vorreiterrolle einnehmen, die insbesondere jene Staaten zur Nachahmung motiviert, die gegenwärtig massiv zum globalen CO2-Ausstoß beitragen, erweist sich als epistemisch höchst ungewiss und kann daher ihrerseits nicht hinreichen, um massive Eingriffe in die Freiheit der eigenen Bürger zu rechtfertigen.

Der appellative Ton schlägt in einen überschießenden und tendenziell illiberalen Moralismus um, wenn die Stellungnahme einzelnen Bürgern eine moralische Mitwirkungspflicht auferlegt, wonach sie „ihre Interessen an mehr Klimagerechtigkeit in lokalen Initiativen, überregionalen Umweltverbänden oder sozialen Bewegungen bündeln [können und sollen], um im zivilgesellschaftlichen Raum politische Dynamiken für Klimaschutz und sozialökologische Transformationen auszulösen oder zu verstärken“ (Abschnitt 4.3.1, Absatz 2), worauf in Empfehlung Nr. 6 Bezug genommen wird.

Angesichts der vielfältigen normativen Leerstellen bleiben hier nicht nur die Konturen der hier für unbedingt unterstützungswert qualifizierten Klimapolitik im Unklaren, es fragt sich auch, weshalb es den mündigen Bürgern nicht selbst überlassen bleiben soll, die Ziele ihres jeweiligen politischen Engagements autonom zu bestimmen.

Mit dieser Rhetorik desavouiert die Stellungnahme zudem das von uns ausdrücklich unterstützte Anliegen, dass es über das Anliegen des Klimaschutzes nicht zu einer Erosion oder Infragestellung der demokratischen Institutionen kommen darf.

Steffen Augsberg, Franz Josef Bormann, Frauke Rostalsk

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