Tichys Einblick
Sozialfaschismus

Die Sprachregelung von Josef Stalin wirkt immer noch

Sloterdijk: Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben.

1st June 1950: A Soviet-sponsored youth rally in the Lustgarten in Berlin. The youth carry huge portraits of Communist leaders such as Joseph Stalin (pictured).

Bild: FPG/Getty Images
Ostersonntag: Wer die Zeit findet, kann über einen Hinweis nachdenken, den wir einem Interview von René Scheu, Feuilleton-Chef der NZZ, mit Peter Sloterdijk verdanken. Sloterdijk beantwortet eine Frage zur Kontintentalverschiebung in der politischen Gesäßgeographie.

Unter welchen mentalen Bedingungen ist es überhaupt möglich, dass der Syllogismus konservativ gleich rechtsradikal gilt?

Nun ja, er gilt nicht, er wird nur von manchen Leuten gern benutzt – ich sage Leute, nicht Dummköpfe. In historischer Sicht geht das verworrene Denkmuster auf die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, als die Moskauer Zentrale die Devise ausgegeben hat, die westliche Sozialdemokratie sei ein «Sozialfaschismus». Damit war der Bürgerkrieg der Begriffe eröffnet. Seine Spuren sind noch heute in den Köpfen präsent, die nicht wissen, von woher das kommt, was sie sagen. Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben. Man muss sich klarmachen, was aus einer Sprachregelung folgt, der zufolge eine Partei der linken Mitte wie die SPD faschistisch heißen sollte. Das Ergebnis war, dass die meisten linken Intellektuellen in Europa für Abstufungen auf dem nichtlinksradikalen Flügel praktisch blind blieben. Die deutschen 68er waren mehrheitlich solche Blinden, und ihr Defekt wirkt bis heute nach. Stellen Sie sich das einfach einmal vor: dass Liberale per se schon Rechte sein sollen und durch Rechts-Ausdehnung Rechtsextreme.

Und weiter zum Mitschreiben für künftige Diskussionen empfehlen wir die folgende Passage (Hervorhebung TE-Redaktion):

Wenn deutsche Sozialdemokraten in der Sicht von links außen soziale Faschisten sind, was sind dann Liberale in Deutschland und anderswo? Was sind erst die Konservativen im älteren Sinn des Worts? Aus dem frustrierten Kryptostalinismus entstand der Syllogismus, der heute noch immer durch die diffus progressive Presse spukt: Sozialdemokratisch ist konservativ, konservativ ist rechts, rechts ist rechtsradikal, rechtsradikal ist faschistisch. Im Übrigen ist der abgesunkene kryptostalinistische Habitus bei uns vor allem das Produkt einer diffusen Furcht: nicht auf der richtigen Seite zu stehen. Da produziert man sich schon einmal vor der linksliberalen Galerie. Genosse Stalin wirft einen langen Schatten. Er hat die Politik der Furcht definiert, und sie wirkt unbemerkt nach. Die Agenten der diffusen Furcht handeln heute wie damals: besser schnell bei Anklagen mitmachen als riskieren, selber ins Visier zu geraten.

Die Osterfrage an die vielen, die sich selbstkritisch gemeint fühlen müssten, gilt das nicht auch für euch? – „… besser schnell bei Anklagen mitmachen als riskieren, selber ins Visier zu geraten“. Ist es nicht an der Zeit, sich von Stalins Sprachregelung zu emanzipieren? Sollte die Anregung, dieses Erbe Stalins auch bei sich selbst zu suchen, am Ostersonntag zu viel verlangt sein, kommen ja in 49 Tagen Pfingsten und der Heilige Geist als nächste Chance der Selbsterkenntnis und Überwindung der Sprachregelung von Väterchen Stalin.

Das Interview ist eine subtile Rache des Philosophen: In einem Beitrag der Tageszeitung DIE WELT war er als „Rechter“ gebrandmarkt worden. Jetzt erklärt er, was er von diesen Redakteuren hält: Ungebildete Anfänger in Schreibstuben.