Tichys Einblick
Eine Rezension aus linguistischer Sicht

Der neue Rechtschreibduden (Rechtschreib-Duden)

Mitte August kam die 28. Auflage des Rechtschreibdudens in den Buchhandel; die vorherige war 2017 erschienen.

imago images / U. J. Alexander

Wörterbücher werden nicht von Anfang bis Ende gelesen, sondern fallweise konsultiert: Sie sollen Zweifelsfragen, hier: Rechtschreibprobleme, schnell und eindeutig beantworten. Diese Aufgabe erfüllt das vorliegende Werk – soweit es die durch die Rechtschreibreform von 1996 eingeführten und dann nachgebesserten amtlichen Regeln zulassen: Es gibt nämlich Tausende von Wortverbindungen mit Varianten bei der Groß- und Kleinschreibung bzw. Getrennt- und Zusammenschreibung, die als Stichwort (fett markiert) doppelt aufgeführt werden müssen:

abscheuerregend, Abscheu erregend
Account-Manager, Accountmanager
Achtung gebietend, achtunggebietend
Achtziger Jahre, achtziger Jahre
80er Jahre, 80er-Jahre

Die empfohlene Variante wird im Rechtschreibduden gelb unterlegt, und wer das Buch aufschlägt, dem fallen als erstes die vielen Gelbmarkierungen auf. Aber macht diese Wahlmöglichkeit das Rechtschreiben nicht einfacher? Vermutlich nicht; denn um eine Variante zu wählen, muss man wissen, dass es sie gibt: die Haare schwarz färben oder schwarzfärben, beides ist orthographisch richtig; schwarz arbeiten geht aber nicht, man schreibt schwarzarbeiten.

Wieviele (wie viele) und welche Wörter?

Die erste Ausgabe des Duden, das „Vollständige Orthographische Wörterbuch der deutschen Sprache“ des Gymnasialdirektors Konrad Duden (1829 –1911), erschien 1880 und hatte 27.000 Stichwörter (auf 187 Seiten). 140 Jahre nach diesem „Urduden“ sind es – einschließlich Schreibvarianten, Eigennamen und Abkürzungen – 148.000 Stichwörter, von „a = [Abkürzung für das Flächenmaß] Ar“ bis „zzgl. = zuzüglich“.

Aber wie viele Wörter hat die deutsche Sprache? Das weiß niemand, denn es kommen tagtäglich neue hinzu. Es ist deshalb einfach, Wörter zu finden, die im neuen Duden nicht vertreten sind. Die Redaktion hat die tagesaktuellen Wörter „Corona: umgangssprachlich für Coronavirus[erkrankung]“, „Covid-19: kurz für corona virus disease 2019“ sowie Coronakrise noch eingearbeitet; „Coronavirus: ein Virustyp mit Hüllmembran“ war schon seit 2006 gebucht. Aber Hunderte von neuen Wortzusammensetzungen (Komposita) mit Corona fehlen: Corona-Chaos [bei Tests in Bayern], Corona-Impfstoff, Corona-Krisenmanagement, Coronaleugner, Corona-Pandemie, Corona-Skeptiker, coronaverseucht u. Ä. Diese Neuwörter sind allerdings aus im Rechtschreibduden gelisteten Wörtern zusammengesetzt, stellen also kein Problem bei der Buchstabenschreibung.

Es wäre unfair, der Dudenredaktion vorzuhalten, dass sie Neuwörter – von denen zudem noch nicht feststeht, ob sie in den allgemeinen Wortschatz übergehen – nicht aufgenommen hat. Beim eingeführten Wortschatz stößt man allerdings auf einige Lücken: Es gibt die Stichwörter Linksintellektuelle, Asylsuchendende und Antifaschismus, aber es fehlen Rechtsintellektuelle, Schutzsuchende und Antifa „antifaschistische Aktion“ (bei Google 25 Millionen Einträge). Der – laut französischen Wörterbüchern veraltete – Schimpfname boche für Deutsche ist gelistet, aber der aktuelle migrantische Kartoffel nicht.

Politische Korrektheiten

Das Stichwort Politische Korrektheit kommt im neuen Duden nicht vor, wohl aber das englische Vorbild „Political Correctness: Einstellung, die alle diskriminierenden Ausdrucksweisen u. Handlungen ablehnt“. Ein typisches Beispiel hierfür ist Neger/-in, das als „stark diskriminierend“ in einem eigenen Infokasten behandelt wird. Zu „Nazi: kurz für Nationalsozialist“ gibt es keine weiterführende Information, obwohl dieser Ausdruck massiv als Schimpfname verwendet wird: International für Deutsche überhaupt und national für viele Gruppen von Deutschen.

Der politischen Korrektheit geschuldet ist auch die kurze Anleitung

„Geschlechtergerechter Sprachgebrauch“ (S. 112–114). Schon der Begriff ist linguistisch abwegig: Dass „der Trottel: umgangssprachlich für einfältigen Menschen, Dummkopf“ grammatisch maskulin ist, die Persönlichkeit aber feminin, hat mit einer sprachlichen Ungleichbehandlung von Mann und Frau nichts zu tun – es sei denn, man verwechselt grammatisches Geschlecht (Genus) und biologisches (Sexus).

Irreführend ist auch die Meinung, bei maskulinen Personenbezeichnungen im Plural (die Antragsteller, alle Schüler) sei „sprachlich nicht eindeutig, ob nur auf Männer referiert wird oder ob auch andere Personen gemeint sind“. Aus dem sprachlichen und situativen Kontext ergibt sich das meist: Eine Meldung wie „Jeder Lehrer soll einen Dienst-Laptop bekommen“ (ZDF-heute 14. 8. 2020) wird jeder Deutschsprecher so verstehen, dass alle Lehrpersonen (Männer, Frauen, Diverse) einen Laptop erhalten. Und in einigen Fällen, zum Beispiel wenn jemand in der Ferne Reiter sieht, weiß der Sprecher nicht, ob es sich um Männer, Frauen oder Männer + Frauen handelt. Soll er dann „geschlechtergerecht“ sagen: „Ich sehe Reiter oder Reiterinnen oder Reiterinnen und Reiter“?

Die Dudenredaktion will „beobachtet“ haben, „dass sich die Variante mit Genderstern (Schüler*innen) in der Schreibpraxis immer mehr durchsetzt“. Wessen Schreibpraxis, bitte? Man kann eine ganze Ausgabe der Süddeutschen Zeitung durchlesen oder in einer Buchhandlung das Regal mit den Neuerscheinungen durchblättern, ohne auf einen einzigen Genderstern zu stoßen. Übrigens stellen die Aktivist*innen zunehmend beim Gendern auf den weniger auffallenden Doppelpunkt um, der phonetisch eine kurze Pause markieren soll (Schüler:innen).

Nicht nur ein Rechtschreib-Lexikon

Der Rechtschreibduden ist nicht nur ein Orthographisches Wörterbuch, er enthält auch zusätzliche Informationen zu Zweifelsfragen des Wortgebrauchs, konkret: Aussprache, grammatische Eigenschaften, Bedeutung, Herkunft, Stilebene, regionale Verbreitung.

Zum Beispiel sind bei Fremdwörtern grundsätzlich die Aussprache (in Lautschrift), Herkunft und Bedeutung angegeben: „Halloween [hɛlo’vi:n] engl.: bes. in den USA gefeierter Tag vor Allerheiligen“. Beim deutschen oder verdeutschten Wortschatz wird der Tonvokal markiert, was besonders für die richtige Aussprache von Eigennamen – die auch ein Muttersprachler nicht vollständig beherrscht – wichtig ist: Wer weiß, dass „Kigali (Hauptstadt von Ruanda)“ mit betonten langem a ausgesprochen wird?

In der Coronakrise ist das Wort Virus in aller Mund, man hört der und das Virus, Der Duden erläutert: „das [Virus], außerhalb der Fachsprache auch der“. Insgesamt können (und sollen) die über die Rechtschreibung hinausgehenden Informationen nicht die einschlägigen Nachschlagewerke ersetzen, sie bieten aber eine erste Orientierung, die in der Praxis häufig ausreicht und stellen einen „Mehrwert“ des Buches dar.


Ein Rechtschreibduden gehört zur Grundausstattung der staatlichen Behörden und Bildungseinrichtungen. Es ist verständlich, dass der Dudenverlag als Wirtschaftsunternehmen auf die – heute leider starken – ideologischen Vorgaben und Bedürfnisse dieses Großabnehmers Rücksicht nimmt. Außerhalb des ideologisch kontaminierten Bereiches, also bei der Masse der behandelten Fragen, konnte die Dudenredaktion linguistisch professionell arbeiten und bietet mit dem vorliegenden Werk einen benutzerfreundlichen und zuverlässigen Ratgeber für die Sprachpraxis.

Duden: Die deutsche Rechtschreibung. Auf der Grundlage der aktuellen amtlichen Rechtschreibregeln. 28., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2020. 1294 Seiten, 28 €.

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