Tichys Einblick
Denkfabrik R21

Corona und CO2: Wenn der Staat der autoritären Versuchung nachgibt

Eine Tagung von R21 blickt zurück auf die illiberalen Covid-Maßnahmen – und fragt: Könnte das auch als Blaupause für die Klimapolitik dienen? Die Gefahr sahen fast alle auf dem Podium. Vor allem ein Ex-Verfassungsrichter warnte dringend davor, Grundrechte anzugreifen.

Screenprint: R21 via Youtube
Die Konferenz in der sächsischen Landesvertretung zum Rückblick auf die Corona-Jahre lief schon einige Stunden, als es plötzlich zum Wortwechsel zwischen einem Politiker auf dem Podium und einem Wissenschaftler im Saal kam. Warum, fragte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, und meinte es eigentlich nur rhetorisch, hätten sich damals so viele Fachleute, die Kritik an den staatlichen Maßnahmen übten, so verhalten geäußert? „Warum“ so leise?, so der CDU-Politiker, ohne jemand konkret anzusprechen. Es fühlte sich aber jemand angesprochen.

Das, rief Klaus Stöhr, Virologe und früherer Leiter des Influenzaprogramms der WHO, könne er nicht so stehenlassen. Es hätten sich, so Stöhr, damals viele kritisch zu Wort gemeldet, sowohl Institutionen als auch einzelne Experten, etwa die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die darauf hinwies, dass FFP-2-Masken außerhalb des Gesundheitswesens wenig nützen. Oder Matthias Schrappe, früheres Mitglied im Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen, der Lockdowns und Schulschließungen als Maßnahmen ohne nachweisbaren Nutzen, aber mit hohen Nebenwirkungen kritisierte.

Auch Stöhr selbst gehörte damals zu den Schwergewichten, die nicht zu dem von der Regierung bevorzugten Ratgeberkreis gehörten. Er stellte damals fest, die Inzidenzzahlen, mit denen der fortdauernde zweite Lockdown begründet wurde, seien willkürlich und realitätsfremd, weil bei einer viralen Atemwegserkrankung im Winter unmöglich zu erreichen. „Viele Wissenschaftler“, rief er dem Ministerpräsidenten zu, „haben sich laut geäußert. Aber offenbar nicht laut genug für die Politik.“

Dass sich ein damals verantwortlicher Regierungschef auf das Podium der Veranstaltung setzte, um sich diese Kritik anzuhören, verdient Anerkennung. Dazu fanden sich bisher die wenigsten Mandatsträger bereit. Kretschmer sagte, er habe damals Fehler gemacht. Und: Die Corona-Zeit müsse „verarbeitet“ werden, auch aufgearbeitet. Dazu sei er bereit.

Die unionsnahe, aber parteiunabhängige Denkfabrik R21 als Organisator der Veranstaltung in Berlin wollte nicht nur in die Vergangenheit schauen, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft. „Deutschland zwischen Covid und Klima – Grundrechte unter Vorbehalt?“ lautete das Thema der Konferenz. Bekanntlich dachten schon einige Politiker – beispielsweise Karl Lauterbach – öffentlich darüber nach, die rigiden staatlichen Einschränkungsmaßnahmen wegen Covid als Blaupause für die Klimapolitik zu nutzen.

Vergleicht man den damaligen No-Covid-Appell, der forderte, Deutschland in rote und grüne Inzidenzzonen einzuteilen und die Grenzen dazwischen polizeilich zu bewachen, mit den Forderungen der „Letzten Generation“ nach der Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unter das Null-CO2-Ziel, dann drängen sich die Parallelen geradezu auf. Im Saal der sächsischen Landesvertretung befassten sich die fünf Diskussionsrunden also gleich doppelt mit den Grundrechten der Bürger, indem sie ihren Blick auf die Corona-Zeit und Gegenwart richteten, in der sich die Forderungen nach Verzicht und Verbot durch Medien und viele Parteiprogramme ziehen.

Gleich zu Beginn stellte Kristina Schröder, Co-Chefin von R21, fest, es gebe den immer stärkeren illiberalen Trend, zwischen gemeinwohlförderlichem und angeblich gemeinwohlschädlichem Freiheitsgebrauch zu unterscheiden. Die Grundrechtseingriffe während der Corona-Jahre, so Schröder, seien „mit Abstand die schwersten“ in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen, politisch meist begründet mit der Formel, „die Wissenschaft“ habe deren Notwendigkeit alternativlos festgestellt. „Was“, fragte die Ex-Bundesministerin, „können wir tun, damit das bei der nächsten Krise nicht wieder passiert?“

Bisher zogen sich die meisten politischen Verantwortungsträger und Journalisten auf drei Entlastungsnarrative zurück: Erstens hätten alle, die damals entscheiden mussten, wenig bis nichts über die Wirkung des Virus gewusst; in dieser Lage hätten sie eben restriktiv handeln müssen, um auf Nummer sicher zu gehen. Zweitens habe es immer, siehe oben, die Empfehlung „der Wissenschaft“ gegeben, denen Bundes- und Landesregierungen folgen mussten. Und drittens sei jeder einzelne Grundrechtseingriff sorgfältig abgewogen worden. Von diesen Mythen blieb am Ende der Tagung wenig bis nichts übrig. „Man konnte sehr früh sehr viel mehr wissen“, meinte Julian Nida-Rümelin, früher Kulturstaatsminister in der Regierung Gerhard Schröders, heute Professor für Philosophie an der Universität München. Der amerikanische Epidemiologe John Ioannidis etwa habe schon relativ zeitig in einer Metastudie gezeigt, dass kein Lockdown weltweit die Infektionszahlen nachhaltig senkte.

Nida-Rümelin führte dafür auch an, wie dicht die Zahl der an Corona Verstorbenen in Deutschland und Schweden heute beieinanderliegen – bei völlig unterschiedlichen Maßnahmenregimen. In der Politikberatung, stellte er fest, hätten einige wenige Virologen das Sagen gehabt, und Epidemiologen – also Spezialisten für Eindämmung des Virus – kaum eine Rolle gespielt. Fachleute für die psychischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Maßnahmen seien praktisch gar nicht gehört worden, obwohl es diese Experten in Deutschland natürlich reichlich gebe. Als einziger Debattenteilnehmer mit Erfahrungen sowohl in Politik als auch in der Wissenschaft zog er das Fazit: „Die Politik wollte damals nicht so viel Evidenz. Sie wollte Ellenbogenfreiheit.“

Dass die Freiheitseinschränkungen damals tief reichten und meist schlecht begründet in Kraft traten, sahen fast alle Diskutanten so. Nur der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer beschwerte sich über einen „Wischiwaschi-Freiheitsbegriff“, mit dem er nichts anfangen könne. Den psychischen Druck beispielsweise von Kindern, die damals unter der Angst vor einem positiven Testergebnis litten, weil das auch Quarantäne für die Eltern bedeutete – die Soziologin Sandra Kostner, Herausgeberin eines Buchs über die damaligen Freiheitseinschränkungen, machte darauf aufmerksam –, hielt Palmer für ein übertriebenes Problem.

Die Ellenbogenfreiheit der Politik, von der Nida-Rümelin sprach, sicherte damals bekanntlich das Bundesverfassungsgericht weitgehend ab, vor allem mit seinem Beschluss, mit dem es das Maßnahmenpaket der sogenannten Bundesnotbremse praktisch ohne Einschränkungen durchwinkte. Hier setzte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier mit seiner Grundsatzkritik an. „Angesichts der Länge der Einschränkungen“, sagte er, habe es das Verfassungsgericht versäumt, „auf die Evaluierung der Maßnahmen zu drängen.“

Das Gericht hätte die Politik also dazu verpflichten müssen, so bald wie möglich anhand von Daten nachzuweisen, dass die Maßnahmen überhaupt wirken. Das sei nie geschehen: „Am Ende der Pandemie war die Datenlage nicht viel besser als am Anfang.“ Einfach pauschal das Plazet für Grundrechtseinschränkungen zu geben, wie es passiert sei, das, so Papier, „entspricht nicht unserer freiheitlichen Ordnung“. Für völlig unakzeptabel hielt der Jurist auch den Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz, für seine Regierung gebe es bei der Corona-Bekämpfung „keine roten Linien“. Papier erinnerte daran, dass selbst die Notstandsverfassung keine Handhabe für die Einschränkung von Grundrechten enthält.

Der langjährige Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ Heribert Prantl nannte den damaligen Beschluss der Bundesverfassungsrichter zur Bundesnotbremse noch ein wenig schärfer „dürftig, mickrig, unintellektuell, überheblich, desaströs“. Die Richter hätten vollkommen darauf verzichtet, der Exekutive wenigstens Leitplanken einzuziehen. Das, meinte er, gelte auch für die Abgeordneten, die den Regierungen einfach freie Hand ließen: „Der erste Lockdown war der des Parlaments.“

Hans-Jürgen Papier beschränkte seine Verteidigung der Grundrechte nicht auf den Corona-Rückblick. Es gebe eine generelle „autoritäre Versuchung“, der Politiker in Deutschland damals reihenweise nachgegeben hätten. Bei der nächsten Krise, diese Warnung schwang darin mit, könnte das wieder geschehen. Mehrere Kernsätze des früheren Verfassungsrichters passten auch ohne Weiteres auf die Klimadebatte: „Es reicht eben nicht, ganz abstrakt den Schutz von Leben und Gesundheit anzuführen, um jedwede Freiheitsbeschränkung zu legitimieren.“ Und: „Ein Staat, der den Bürgern alle Risiken abzunehmen versucht, ist selbst ein Risiko.“

Autoritär, mit diesem Stichwort setzte sich auch der bayerische FDP-Chef Martin Hagen auseinander. Bayern, spottete er, habe „die strengsten Maßnahmen und die schlechtesten Corona-Zahlen“ gehabt. Politiker wie Markus Söder hätten aber auch erfahren, zumindest am Anfang, wie viele Bürger sein autoritäres Auftrumpfen mit begeisterter Zustimmung belohnten. Susanne Gaschke, Redakteurin bei der NZZ, beklagte, der Streit über die Corona-Maßnahmen sei von Anfang an extrem moralisiert geführt worden, gerade in und von den Medien. Auch dieser Befund gilt für die Klimadebatte.

In der Diskussionsrunde zu der Frage, ob es womöglich einen Übergang von der autoritären Corona- zur Klimapolitik geben könnte, saß mit dem emeritierten Klimaforscher Hans von Storch ein Wissenschaftler, der schon in seinem Buch „Die Klimafalle“ davor warnte, dass politisierte Wissenschaftler den Politikern Vorlagen zur Verfolgung einer ganz bestimmten Agenda liefern. Sei die Nähe zwischen beiden zu groß, „dann verlieren beide ihre Stärken“. Von Storch machte auch deutlich, dass Freiheitseinschränkungen seiner Ansicht nach generell nichts Sinnvolles dazu beitragen, den CO2-Ausstoß einzudämmen. Auf die Frage, was Deutschland denn auf diesem Gebiet Sinnvolles tun könnte, meinte er: Die Intelligenz seiner Fachleute nutzen, um technische Lösungen zu finden, „die erstens wirtschaftlich funktionieren und zweitens Emissionen reduzieren: Aber so und nicht anders herum.“ Solche Technologien würden sich von ganz allein in der Welt verbreiten.

Das klingt zwar schlüssig – würde aber die deutschen Klimapolitiker mit einem Schlag arbeitslos machen.

Die Veranstaltung von R21 litt ein wenig darunter – ohne dass die Denkfabrik etwas dafür konnte –, dass die Gegenpositionen weitgehend fehlten, also prominente Figuren in Wissenschaft und Politik, die nach wie vor darauf bestehen, während der Corona-Zeit im Großen und Ganzen richtig gehandelt und kaum Schaden angerichtet zu haben, und die auch in der Klimapolitik meinen, die Freiheit der Einzelnen müsste sich eben dem großen Ziel unterordnen.

Gäbe es Talkshows mit den Diskutanten von Berlin und diesem Kreis, und folglich echten Streit, dann wäre zumindest das Meinungsklima in Deutschland erheblich besser.

Die Redaktionen von ARD und ZDF wissen jetzt immerhin, wem sie eigentlich mindestens die Hälfte ihrer Stühle freiräumen müssten.

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