Tichys Einblick
Bundesverfassungsgericht verhandelt

Wie Wahlen manipuliert werden können – erschreckende Einsichten in Karlsruhe

Nach vielen Beschwerden liegt die verkorkste Berlinwahl nun beim Bundesverfassungsgericht. Doch die Richter treffen schon im Verfahren eine Vorauswahl, die das Ergebnis vorwegnehmen könnte. Künftige Wahlmanipulationen sollen erleichtert werden, fordern die Ampel-Vertreter. Die Demokratie wird ramponiert.

IMAGO / Political-Moments
In welchem Umfang muss die Bundestagswahl vom 26. September 2021 in Berlin wiederholt werden? Über diese nun schon fast zwei Jahre zurückliegende und gründlich vermurkste Wahl verhandelte das Bundesverfassungsgericht in der mündlichen Verhandlung am Dienstag dieser Woche. Schon von Anfang an war klar: Das Bundesverfassungsgericht findet eine komplette Wiederholung nicht nötig. Ein Interesse an einem vertrauenswürdigen Wahlvorgang hat auch sonst niemand, der in Karlsruhe vorgeladen worden war – weder die CDU, deren Beschwerde ausgewählt wurde, noch die Vertreter der Ampel-Mehrheit im Deutschen Bundestag, die eine Wahlwiederholung scheuen wie der Teufel das Weihwasser, oder grüne und linke Abgeordnete, die um ihr Mandat fürchten müssen. In allen Parteien geht die Angst um, die Wähler könnten anders wählen als damals. Auch die Klage der AfD-Bundestagsfraktion  auf die Wiederholung in ganz Berlin wird nicht verhandelt. Das Bundesverfassungsgericht stellt sich damit auf die Seite der Mandats-Inhaber.

Kennen Sie übrigens diese Bundestagsabgeordneten?
Ansgar Heveling
Patrick Schnieder
Johannes Fechner
Till Steffen
Philipp Hartewig

Vermutlich nicht. Sie sind Vertreter der B-Liga der deutschen Politik und standen  an diesem Dienstag vor dem Bundesverfassungsgericht – und gegen die Bundestagsmehrheit der Ampel. Die Personenauswahl zeigt, wie ernst die Parteien dieses Verfahren nehmen. Das Heiligste der Demokratie, die ordnungsgemäße und faire Wahl, überlässt man Hinterbänklern.

Folgen des Wahlchaos
Vor der Entscheidung über Wahlwiederholung in Berlin – Wer darf Hüter der Verfassung sein?
Schon im Eingang hat das Bundesverfassungsgericht eine merkwürdige Entscheidung getroffen. Zur Wahl in Berlin sind mindestens neun Wahlprüfungsbeschwerden eingegangen – eine davon von Tichys-Einblick-Lesern angestrengt, die von TE und seinen Lesern sowie der Atlas-Initiative darin unterstützt wurden. In solchen Fällen ist es gängige Praxis des Gerichts, nicht jede Klage einzeln zu verhandeln, sondern anhand einer Auswahl von exemplarischen Beschwerden alle abzuarbeiten. Doch das Gericht hat in diesem Fall entschieden, nur eine Beschwerde anzuhören: die sehr begrenzte der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Die will nur in einer sehr begrenzten Anzahl, etwa in der Hälfte der Fälle,   die Wahl wiederholen lassen – keinesfalls ins allen Wahlkreisen, wie es bei der bereits geschehenen Wahlwiederholung zum Abgeordnetenhaus geschehen ist. Bekanntlich hat diese Wahl dazu geführt, dass Berlin einen neuen Senat und regierenden Bürgermeister erhalten hat. Warum gilt für die wichtiger Bundestagswahl nicht, was bei der Lokal-Wahl gegolten hat?
Mit einer Minderforderung gestartet

Das Gericht hat also als Exemplar-Beschwerde eine Beschwerde ausgesucht, die weit unter der Maximalforderung bleibt und schon damit eine erste Einschätzung ermöglicht, wie das Verfahren entschieden werden wird. Sicher: Die Richter könnten dennoch eine Wahlwiederholung in ganz Berlin anordnen – aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Dieses Vorgehen ähnelt der Verfahrensweise des Bundesverfassungsgerichtes zur Einführung der Rundfunkgebühr: Beschwerden, dass die Gebühr zu hoch war, wurden angehört, stellvertretend für Beschwerden, dass die Form und Funktion der ÖRR-Abgabe nicht mehr verfassungsgemäß sei. Letzteren wurden so umgangen, ohne sich mit der Kritik am System-ÖRR befassen zu müssen.

„Bestandsschutz“ steht über Wählerwillen

In der Verhandlung am Dienstag war vor allem ein Wort wichtig: „Bestandsschutz“. Damit meinten die Vertreter des Bundestags, also der Ampel, dass ein rechtmäßig gewähltes Parlament nun einmal gewählt ist und deswegen unantastbar ist – und deswegen müsse die Wahl nur so begrenzt wie möglich wiederholt werden. Es ist eine feige, pragmatische Entscheidung der Bundestagsmehrheit, aber auch der CDU: Man versucht, die  Wahlwiederholung  in allen Wahlkreisen  zu verhindern. Denn ändern soll sich bitte nichts an den Wahlergebnissen, deswegen versucht man sich mit einem verwegenen Kompromiss. Die Union fordert, entgegen der Ampel, dass ausschließlich die Zweitstimme wiederholt werden soll. Die Erststimme soll bitte unangetastet bleiben.

„Ein absurdes Theater“, nennt das der Jurist Ulrich Vosgerau, der auch die Beschwerde der TE-Leser vor Gericht vertritt. Ein paar Listen-Abgeordnete würden dann vielleicht neu geordnet, aber die Partei DIE LINKE wäre weiterhin sicher im Bundestag vertreten. Denn es besteht die Gefahr, dass bei einer kompletten Neuwahl der Erststimmen DIE LINKE eines ihrer drei Direktmandate verliert. Und damit den Fraktionsstatus und sämtliche 36 Listen-Abgeordnete: Bekanntlich hat DIE LINKE die 5-Prozent-Hürde nicht geschafft und zog in Fraktionsstärke nur ein, weil sie 3 Direktmandate errungen hat – zwei davon in Berlin. Wird nur die Wahl mit der Zweitstimme wiederholt, bleibt alles, wie es ist, nur ein paar Hinterbänkler haben vielleicht eine andere Farbe.

Wahlfälschung wird künftig erleichtert

Es zeigt sich: Keine der Parteien übernimmt Verantwortungsbewusstsein für die Demokratie als Ganzes. Für Parteitaktik wird das Vertrauen der Bürger geopfert. „Eine Krähe hackt der anderen keine Auge aus“, sagt der Volksmund oder in diesem Fall: Mandatsinhaber vertreten die Interessen von Mandatsinhabern, nicht die der Wähler. Sicher, die Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht am Ende treffen wird, wird legalistisch irgendwie sauber sein; wozu hat man Juristen, die solche Paragraphen zurechtbiegen. Auch sind die Argumente der Ampel wie der Union rechtlich alle korrekt, selbstverständlich sind alle Krähen schwarz.

Die Ampel hat recht, wenn sie anführt, dass bei der Berlinwahl nur 14,8 Prozent der Wahlbezirke „erwiesene“ Fehler im Sinne des Bundestags ausweisen. Das liegt allerdings daran, dass die Wahlprotokolle ihren Zweck des Protokollierens kaum erfüllen – denn nur wenige weisen auf Wahlfehler hin. Dafür sind auf manchen von ihnen zum Beispiel mittelhochdeutsche Gedichte vermerkt, statt ordentliche Protokolle des Wahlgeschehens, wie Richter Peter Müller während der Verhandlung anmerkt. Dieser Logik zufolge wäre es besser, wenn Wahlprotokolle niemals ausgefüllt werden, dann können sie nämlich keine Hinweise auf Wahlfehler liefern – und nach der Logik der Ampel ist dann alles mit rechten Dingen zugegangen, ist die Schlussfolgerung. Eine logische Konsequenz, die nicht der Autor dieser Zeilen, sondern der Richter Müller formuliert hat.

Damit wird ein bemerkenswerter Anreiz geliefert: falsch auszählen, die Protokelle mit Kritzeleien statt nachprüfbarer Zahlen füllen – und die Wahl kann nicht mehr überprüft werden. So werden Wahlfälschungen überprüfungssicher und das Misstrauen der Wähler steigt berechtigterweise. So zerstört man das Vertrauen der Wähler mit einem Urteil des höchsten Gerichts bei zugekniffenen Augen der Mehrheit des Deutschen Bundestags, die sich so künftig Konkurrenten leichter vom Hals halten kann.

Dabei sind die Mängel des Wahlvorgangs eklatant: Wahllokale, die weit über die zulässige Zeit geöffnet waren; Wähler, die Stunden anstehen mussten und dann nach Hause geschickt wurden; vertauschte Wahllisten; Parteilisten, die im jeweiligen Bezirk gar nicht zur Wahl standen, und zuletzt ein Innensenator mit dem Rotstift: Wie schief muss eine Wahl sein, dass sie „erwiesene“ Fehler aufweist? Wie viel Manipulation ist erlaubt, bis eine Kontrolle erfolgt? Vor dem Gericht wurde gestritten, welche Fehler nur bei der Landeswahl und welche bei der Bundestagswahl passiert seien – angeblich wurden Stimmzettel für die Landeswahlen Berlins fotokopiert, die für die Bundestagswahl aber nicht. Angeblich wurde die Wahl für das Land unterbrochen, aber nicht für die Bundestagswahl. Angeblich, laut den Protokollen.

TE prüft genauer als die Monsterbehörde des Bundestags

Überhaupt hat der Wahlprüfungsausschuss wenig geprüft. Aus der Befragung durch das hohe Gericht geht hervor: Der Wahlprüfungsausschuss hat keine aktive Aufklärung der Vorkommnisse in Berlin betrieben. Man hat ausschließlich auf Wahleinsprüche der Bürger reagiert, 1.713 an der Zahl. 90 Prozent dieser Einsprüche kamen aus Berlin. Bei Bundestagswahlen wurden bisher immer 200 bis 300 Einsprüche erhoben. Auch die Wahlprotokolle der einzelnen Wahllokale wurden vom Ausschuss nicht geprüft. Dafür fehlte die Zeit, so die Ampelvertreter, deren Prozessbevollmächtigter der Rechtsanwalt Prof. Heiko Sauer ist. Man habe nur zwei wissenschaftliche Mitarbeiter im Ausschuss gehabt und diese hätten die 40.000 Dokumente niemals zeitgerecht durcharbeiten können, so das Argument.

Das ist peinlich, höchst peinlich. Tichys Einblick konnte dieselben Dokumente mittels einer Gruppe von einem Dutzend Jungjournalisten und Studenten in einer Woche digitalisieren und das Verfassungsgericht konnte die Dokumente durch einen (!) wissenschaftlichen Mitarbeiter innerhalb weniger Wochen prüfen lassen. Der Bundestag hat übrigens 4.500 Beschäftigte, davon 1.700 wissenschaftliche Mitarbeiter. Schlauerweise hätten sie auch auf die elektronischen Dateien zurückgreifen können, die TE zur Verfügung gestellt hat. Dann hätten sie nicht einmal ihre weichen Sessel verlassen müssen. Aber so verfestigt sich der Verdacht: Wer nicht prüft, findet auch nichts.

Korrekte Wahlen sind nicht mehr wichtig

Vor allem wurde in der Verhandlung eines klar: Für die Ampel hat eine Wahlprüfungsbeschwerde nur dann Erfolg, wenn in ihr „bewiesen“ werden kann, dass ein mandatsrelevanter Fehler vorlag. Ein noch so massives Versagen in der Organisation einer Wahl sei – angeblich – nicht ausschlaggebend. Folgt das Gericht dieser Idee, so gibt es in Deutschland eigentlich keine Möglichkeit mehr, gegen eine Wahl erfolgreich Einspruch einzulegen. Denn wie soll durch den Normalbürger „bewiesen“ werden, dass es auch jedenfalls „mandatsrelevante“ Fehler gab? Dies können nur staatliche Gerichte klären, die tätig werden müssen, sofern hinlängliche Indizien für möglicherweise gravierende Wahlfehler bestehen; und so sieht es § 26 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ja auch vor. Zumal in einem Umfeld wie dem der Berlinwahl, wo der zuständige Innensenator Andreas Geisel und seine Mitarbeiter aktiv versuchten, das Versagen der Bezirke und des Senats in der Organisation zu vertuschen – und nicht passende Ergebnisse nachträglich mit dem Rotstift korrigiert haben.

Die Entscheidung, inwieweit die Bundestagswahl wiederholt werden muss, liegt nun beim Bundesverfassungsgericht. Und damit auch die Entscheidung, inwieweit das Wahlsystem Deutschlands verlässlich ist. Eine Tendenz der Entscheidung mag man in der Auswahl ausgerechnet der Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erblicken. Doch sicher ist das Ergebnis nicht. Wann das Gericht die Entscheidung verkündet, ist noch nicht terminiert.

Nach der Verkündung muss die Wiederholung innerhalb von 60 Tagen stattfinden – der Landeswahlleiter Berlins, Dr. Stephan Bröchler, bat das Gericht daher darum, dass diese 60 Tage nicht in die Advents-, Weihnachts- oder Neujahrszeit fallen sollte. Eine Wiederholung sei dann nicht machbar, da Gemeinderäume nicht als Wahllokal zur Verfügung stünden und Wahlhelfer kaum zu finden seien. TE wollte von Bröchler wissen, welches Modell einer Wahlwiederholung er als Landeswahlleiter für richtig hielte. Aus Rücksicht auf seine politische Neutralitätspflicht wollte er sich allerdings nicht äußern. Die Entscheidung des Gerichts wird aber für den Herbst erwartet.


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TE dankt allen Lesern, die es mit ihrer Unterstützung ermöglichen, dass wir Recherchen wie die zur Wahlmanipulation und die Klage vor dem BVerfG durchführen konnten und können. 

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