Tichys Einblick
Lockdown-Strategie gescheitert

Corona-Update: Ist das Infektionsgeschehen unbeherrschbar?

Die Wellenbrecher-Strategie der Bundesregierung mit dem Lockdown von November ist gescheitert. Ob eine weitere Verschärfung wirksam ist, kann bezweifelt werden. Auch die sogenannte „Wissenschaftsakademie“ Leopoldina gerät intern unter Druck.

picture alliance/dpa/dpa-Pool | Bernd von Jutrczenka

Die Zahlen des Corona-Geschehens haben sich erneut verschlechtert: Am Sonntag, dem 13. Dezember ergibt sich eine 7-Tages-Inzidenz von 169 Fällen pro hunderttausend Einwohner. Wobei es sich um Infizierte handelt, nicht um Erkrankte. Einen Sonntag zuvor, am 6. Dezember, betrug diese Maßzahl 142 Fälle je Hunderttausend. Damit zeigt sich ein ähnlicher Trend wie in den USA Mitte dieses Jahres: Auf eine kurze, vermeintliche Beruhigung der Situation und sinkende Inzidenz folgt dann ein schneller Anstieg. Folgen wir dem USA-Modell, kommt als nächstes der restlose Verlust der Kontrolle über das Virus.

Offensichtlich ist das Ansteckungsgeschehen nicht beherrschbar, da die Übertragung durch Aerosole sehr leicht ist. Darauf hatten bereits im Frühjahr Wissenschaftler verwiesen. Damit ist der „Wellenbrecher-Lockdown“ der Bundesregierung krachend gescheitert. Und es ist fraglich, ob der verschärfte Lockdown aus sich heraus eine Änderung bringt. Menschen müssen weiterhin einkaufen, grundlegende Berufe ausüben und werden über Weihnachten unterwegs und zusammensein wollen.

In den letzten 7 Tagen wurden deutschlandweit 149.400 Fälle neu gemeldet. Derzeit liegen 4.552 Patienten mit Covid-19-Infektion auf den Intensivstationen, davon werden 2.602 künstlich beatmet. Es gibt weiterhin 4.271 freie Betten auf Intensivstationen. Berlin, das wegen der dort konzentrieren Medienberichterstatter besondere Aufmerksamkeit genießt, hat weiterhin ein erhöhtes Ansteckungsgeschehen und eine von 178 auf 151 Betten gesunkene Bettenzahl in Intensivstationen. Im benachbarten Brandenburg stehen weitere Behandlungsplätze ausreichend zur Verfügung. Dort sinkt die Auslastung sogar. Weniger als ein Drittel der Patienten auf Intensivstationen sind mit COVID-19 infiziert; damit ist das Geschehen auf den Intensivstationen weitgehend durch klassische Erkrankungen dominiert.

Die Intensiv-Kapazitäten nehmen weiter ab – möglicherweise weil mehr Pfleger erkranken. Das Schrumpfen der Kapazitäten scheint sich immerhin verlangsamt zu haben, möglicherweise weil infizierte Pfleger jetzt wieder genesen sind und/oder zur Arbeit kommen können.

Kritik an Leopoldina wächst

Angesichts der tatsächlichen Entwicklung wächst die Kritik an der Coronapolitik der Bundesregierung und der gemeinsam mit ihr agierenden Länderregierungen.

Der „Wellenbrecher-Lockdown“ vom November hat seine Wirkung verfehlt, allerdings die Wirtschaft schwer belastet. Im Schnitt sind die Besucherströme in den beliebtesten 40 Einkaufsstraßen in 21 Städten um knapp 44 Prozent gesunken. Laut Hystreet sank die Zahl der Passanten in den untersuchten Geschäftsstraßen von 32,5 Millionen im November 2019 auf 18,3 Millionen in diesem November. In einer kürzlich veröffentlichten Studie geht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) von einem Umsatzrückgang des Einzelhandels in Deutschland von bis zu 7,6 Milliarden Euro (ohne Mehrwertsteuer) im November aus. Im Dezember hält das IW sogar ein Minus von bis zu 9,3 Milliarden Euro für möglich. Fachleute fürchten, dass 40 % und mehr des Handels das Frühjahr nicht erleben werden. Den „Preis“ für den Wellenbrecher zahlen Unternehmen und ihre Beschäftigte.

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Auch die nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina gerät ins Schussfeld der Kritik. Diese stark unter politischem Einfluss stehende Einrichtung hatte Anfang Dezember für Einschränkungen plädiert, wie sie jetzt weitgehend umgesetzt werden. Nun hat Prof. Dr. Michael Esfeld, Wissenschaftsphilosoph an der Universität von Lausanne und selbst Mitglied der Leopoldina den Präsidenten der Leopoldina, Herrn Prof. Haug, mit Protestnote vom 8. Dezember 2020 aufgefordert, diese Stellungnahme zurückzuziehen. Hier die Protestnote:

“Sehr geehrter Herr Kollege Haug,

Mit Bestürzung habe ich die heute veröffentlichte Stellungnahme der Leopoldina zur Kenntnis genommen, in der es heißt:

„Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern.“

Diese Stellungnahme verletzt die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit, auf denen eine Akademie wie die Leopoldina basiert. Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen. Wir haben es mit der üblichen Situation einer wissenschaftlichen Kontroverse zu tun, in der verschiedene Standpunkte mit Gründen vertreten werden:

• Innerhalb des engeren Kreises der Experten von Virologie und Epidemiologie ist die Strategie zum Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus umstritten. Der Seite von Virologen und Epidemiologen, die scharfe politische Maßnahmen fordern, steht eine andere Seite von Virologen und Epidemiologen gegenüber, die mit Gründen einen nur auf die Risikogruppen fokussierten Schutz empfehlen, ausgedrückt zum Beispiel in der von führenden Medizinern verfassten Great Barrington Declaration.

• Im weiteren Kreis der Wissenschaftler ist höchst umstritten, ob der Nutzen scharfer politischer Maßnahmen wie ein Lockdown die dadurch verursachten Schäden aufwiegt – und zwar Schäden an zukünftigen Lebensjahren, die in Deutschland und anderen entwickelten Ländern infolge eines Lockdown verloren gehen, Todesfälle durch einen erneuten Anstieg der Armut in den Entwicklungsländern usw. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, gemäß denen die verlorenen Lebensjahre den maximal erreichbaren Nutzen geretteter Lebensjahre um ein Vielfaches übersteigen werden.

• Ethisch gibt es insbesondere in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Tradition Gründe, grundlegende Freiheitsrechte und die Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu halten. Zur Würde des Menschen gehört dabei insbesondere die Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, was die jeweilige Person als ein für sie würdiges Leben erachtet und welche Risiken sie für diesen Lebensinhalt einzugehen bereit ist in der Gestaltung ihrer sozialen Kontakte.

In einer solchen Situation wissenschaftlicher und ethischer Kontroverse sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen, die vorgeben, eine bestimmte politische Position wissenschaftlich zu untermauern. Ich möchte Sie daher höflichst bitten, die entsprechende Stellungnahme umgehend als Stellungnahme der Leopoldina zurückzuziehen.“

Folgt man der Argumentation von Esfeld kann die Corona-Strategie der Bundesregierung als gescheitert betrachtet werden. Eine Zunahme von Infektionszahlen erscheint danach unvermeidbar. Naheliegend wäre dann ein massiver Ausbau der entsprechenden medizinischen Behandlungskapazität und ein konsequenter Schutz besonders verletzlicher Personenkreise einschließlich einer konsequenten Teststrategie im Umfeld dieser Gruppen.

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