Tichys Einblick
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Chaos größer als bekannt: Bei Berliner Wahlen wurden Ergebnisse massiv manipuliert

Früherer Abgeordneter Marcel Luthe erstattete am Samstag Strafanzeige gegen Wahlleitung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg.

Wahlhelfer und Wahlhelferinnen zählen in einem Wahllokal Stimmzettel für die Bundestagswahl.

picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow
Das Chaos bei den Wahlen zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus in Berlin am 26. September 2021 war noch größer als bislang bekannt. Das geht aus den Protokollen der Wahlvorstände hervor, die dem Magazin Tichys Einblick vollständig vorliegen. Auf zehntausenden Seiten zeigt sich, dass es sogar bewusste Manipulationen durch die Wahlleitungen in den Bezirken gab. Nicht einzelne, sondern 20 Prozent der abgegebenen Stimmen wurden im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nach der Wahl für ungültig erklärt, nach drei Tagen jedoch wieder zugelassen.

Aufgrund der Recherchen der Zeitschrift hat der frühere Abgeordnete Marcel Luthe am Samstag Strafanzeige gegen die Verantwortlichen des Bezirkswahlamts Friedrichshain-Kreuzberg gestellt. „Die Hemdsärmeligkeit, mit der die zuständigen Beamten im Bezirkswahlamt agiert haben, ist erschütternd und offenbar bar jedes Respekts vor dem Souverän“, sagte Luthe Tichys Einblick. „Vorsätzlich falsche Stimmzettel ausgeben zu lassen, weil man sich vorher schon keine Mühe gegeben hat, ist kein Lapsus. Meines Erachtens hat man hier 80 Menschen vorsätzlich um ihr Wahlrecht gebracht – und auch das dürfte nur die Spitze des Eisberges sein!“, so Luthe.

In dem von Tichys Einblick dokumentierten Fall im Wahllokal 20512 im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg lagen zu Beginn der Wahl für die Zweitstimme zum Berliner Abgeordnetenhaus die falschen Wahlzettel aus dem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf vor. Im Protokoll des Wahlvorstandes heißt es: „Der Fehler wurde gegen 8:15 vom Wahlvorstand dem Bezirkswahlamt gemeldet. Von dort kam zunächst die Weisung, mit der Wahl mit den falschen Wahlzetteln fortzufahren. Etwa 2 Stunden später bekamen wir die Information, dass die ‚Charlottenburg-Wilmersdorf‘-Wahlzettel als ungültig zu behandeln sind. Bis dahin hatten 82 Personen diese Wahlzettel genutzt.“

Die Folge: Diese Stimmzettel wurden für ungültig erklärt. Da die Wähler das Wahlbüro verlassen hatten, konnte man sie auch nicht mehr darauf hinweisen. Laut Protokoll kamen drei Wähler von sich aus zurück, um neu zu wählen. Erst gegen 10:30 Uhr erhielt das Wahllokal die richtigen Stimmzettel. Die Folge: Im genannten Wahllokal wurde jede fünfte Stimme, also 20 Prozent der Stimmen für die Wahl zum Abgeordnetenhaus für ungültig erklärt. Bemerkenswert: Drei Tage nach der Wahl wurden die Stimmen wieder als gültig eingestuft!

Ein zehnköpfiges Redaktionsteam sichtet derzeit ähnliche Fälle in anderen Wahllokalen. In Lichtenberg hat man beispielsweise vergessen, über 100 Wählern einen Stimmzettel zu geben. In einem weiteren Wahllokal in Friedrichshain-Kreuzberg wurden 102 falsche Wahlzettel ausgegeben. Allein in Friedrichshain-Kreuzberg haben 132.000 Wähler ihre Stimme abgegeben – teilweise auf falschen und damit als „ungültig“ erklärten Stimmzetteln. Nach ersten, vorsichtigen Schätzungen wurden damit allein in diesem Bezirk zehntausende Wähler um ihr Wahlrecht betrogen.

Für den früheren Abgeordneten Marcel Luthe stellt sich deshalb die Frage, ob die Wahlen in Berlin überhaupt gültig sein können. In seiner Anzeige spricht Luthe von einer „strafbaren Wahlfälschung durch Bewirkung eines ‚sonstigen unrichtigen Ergebnisses‘ im Sinne des § 107a StGB“. Dieses Vorgehen habe ein „falsches Ergebnis einer Wahl“ herbeigeführt, da der Wählerwille – etwa die Wahl der auf dem Stimmzettel genannten Kandidatenliste – nicht umgesetzt worden sei. „Wären die Stimmen ‚einfach‘ für die jeweils angekreuzte Partei gezählt worden, läge ebenfalls ein falsches Ergebnis vor, denn auch die Zweitstimme enthält in Berlin wegen der Bezirks- und Landeslisten zur Abgeordnetenhauswahl ein starkes persönliches Element: Die Listen sind ja nicht anonym, sondern führen konkrete Kandidaten auf“, erklärt Luthe gegenüber Tichys Einblick. „Werden Wählerlisten vertauscht oder verschwinden sie, werden betroffene Kandidaten um ihren Wahlerfolg und Wähler um ihre gezielt abgegebene Stimme betrogen. Wer etwa die FDP mit der Zweitstimme gewählt hätte, weil er den Abgeordneten Henner Schmidt unterstützen wollte, hätte das Gegenteil erreicht, denn der Abgeordnete Schmidt war Kandidat in Charlottenburg-Wilmersdorf.“


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