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Lockdown oder nicht?

Berchtesgaden: Die Söder-Show verheert einen Landstrich

Über den Landkreis Berchtesgadener Land in Bayern wurde ein Lockdown verhängt. Doch ist das nötig? Wer sich auskennt, zweifelt. Nur weil Ministerpräsident Markus Söder den starken Mann spielen will, wird ein Landstrich drangsaliert.

imago Images/Sven Simon

Über dem Bayrischen Landkreis Berchtesgadener Land wurde ein Lockdown verhängt.  Schließlich hat man noch immer Sonderrechte, Monate nachdem das Corona-Virus in Deutschland angekommen ist. Wozu diese abgeben, bevor das dazu befähigende Gesetz im März nächsten Jahres ausläuft, wenn die Parlamente – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene – es sich mit ihrer Entmachtung mittlerweile bequem gemacht haben?

Jedenfalls ist nun das ganze Berchtesgadener Land im Lockdown. Schulen, Kultur und Freizeitabgebote sind geschlossen, das Verlassen der Wohnung ist nur mit „trifftigem Grund “ erlaubt (wobei eigenlich alles, das einen aus der Wohnung locken könnte, als „trifftig“ gillt), 2.500 Touristen mussten abreisen. Obwohl es zwar konsequent gewesenen wäre, alle abreisenden Touristen noch vor ihrer Abreise zu testen, ist dies nicht geschehen. Stattdessen sind sie nun per Bus, Bahn und Auto auf der Rückreise, um sich zu Hause testen zu lassen – auf die Gefahr hin, in öffentlichen Verkehrsmitteln weitere Menschen in anderen Regionen anzustecken. Konsequent ist das nicht. Oder schert sich Söder mehr um den schönen Schein seiner Verordnungen statt um deren Sinn? Die zur Abreise gedrängten Touristen jedenfalls werden ihren Urlaub nicht in guter Erinnerung behalten. Es drängt sich der ungute Verdacht auf, dass es sich bei dem Berchtesgadener Lockdown um einen weiteren Ausdruck des berüchtigten söderischen Aktionismus handelt. Denn die Situation im Landkreis ist kaum so schlimm, wie es Söder darstellt.
Die Sieben-Tages-Inzidenz betrug zuletzt 262,4 Fälle pro 100.000 Einwohner. 262,4 Fälle von Infizierten klingt ebenso dramatisch wie alarmierend und präzise. Aber genau das ist nicht der Fall – es ist eher ein Fall von Überdramatisierung.

Wie sieht es in den Krankenhäusern aus?

Im Landkreis mit seinen nur gut 100.000 Einwohnern gibt es zu dieser Zeit, laut DIVI-Intensivregister, 21 Intensivbetten (stand Mittwoch Mittag – am Dienstag waren es noch 19). Davon waren am Mittwoch 14 belegt – es wurden Betten frei gemacht, wohl in Erwartung steigender Covid-19-Patientenzahlen, denn am Dienstag waren noch 16 belegt. Es wird zur Zeit ein Patient mit Covid-19 auf der Intensivstation gemeldet, der nicht invasiv beatmet wird. Der neuesten Meldung des Landkreises zufolge werden 12 Patienten stationär im Krankenhaus behandelt.

Insofern steht das Berchtesgadener Land gut da, denn nur 4,76 Prozent der Intensivbetten sind mit Covid-19 Patienten belegt. Im übrigen stehen im Umkreis von einer knappen Fahrstunde weitere Intensivbetten bereit. Nach den offiziellen Kennzahlen ist Berchtesgaden keineswegs der am schwersten betroffene Kreis in Deutschland. Diese zweifelhafte Ehre geht an den Landkreis Vulkaneifel in Rheinland-Pfalz, in dem sechs von 21 Intensivbetten, also 28,57 Prozent der Intensivbetten, mit Covid-19 Patienten belegt sind. Berchtesgaden ist auch nicht der an schwersten betroffene Landkreis in Bayern, dieser Preis geht an den Oberallgäu, in dem vier Covid-19-Patienten 26,67 Prozent der 16 existierenden Intensivbetten belegen.

Und selbst wenn in dem einen oder anderen Kreis die Kapazitäten überlastet sind: die gesamt Situation in Deutschland ist nach wie vor gut. Es gibt noch viele freie Kapazitäten, und die Kapazitäten können noch weiter vergrößert werden. Der einzige deutsche Nachbarlandkreis Berchtesgadens, Traunstein, meldet 64 Intensivbetten (58 waren es noch am Dienstag), davon 17 frei und einen nicht beatmeten Covid-19 Patienten. Übrigens ist die Inzidenz im Landkreis Traunstein deutlich niedriger: hier beträgt die Inzidenz noch 41,7 Fälle. Sie steigt auch hier, aber ist eben noch weit vom Berchtesgaden-Niveau entfernt. Im benachbarten Österreich in Salzburg mit seinen hervorragenden Kliniken stehen Kapazitäten in dreistelliger Zahl bereit. Längst hat sich eine die Grenzen überschreitende Behandlungspraxis eingebürgert. Von einer Überlastung der medizinischen Ressourcenn kann nicht im Entferntesten die Rede sein.

Die Eingenheiten des Landkreises

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Dazu kommen die regionalen Eigenheiten des Berchtesgadener Landes. Der Kreis deckt ein weites deutsch-österreichisches Grenzgebiet ab. Im Süden liegt das namensgebende, hochalpine Berchtesgaden, in einem räumlich isolierten Hochtal, dass auf drei Seiten von Österreich umgeben ist und in das von deutscher Seite aus nur zwei große Bundesstraßen hineinführen. Hier lebt man vom Tourismus, Landwirtschaft und dem Salzbergbau. Nach Norden hin, in Hügelland gelegen und auf der Westseite des Grenzflusses Saalach liegen die alpinen Gemeinden Bad Reichenhall (das eines der Tore in den Berchtesgadener Talkessel bildet), sowie die sanften, voralpinen Hügellandschaften mit Orten wie Laufen, Freilassing und Teisendorf. Auf der anderen Seite der Grenze liegt Salzburg, doch auf deutscher Seite ist die Landschaft mit Dörfern und Kleinstädten durchsetzt. Tourismus spielt hier im Voralpenbereich eine geringere Rolle.

Das Infektionsgeschehen in einer Gemeinde wie Anger (4.500 Einwohner) ist deutlich anders als das Infektionsgeschehen in der Watzmann-Gemeinde Ramsau (1.700 Einwohner). Es ist ein extrem unterschiedliches, kleinräumiges Geschehen. Ein gemeinsames Zentrum gibt es in dem aus drei Einzelteilen zusammengestückelten Landkreis nicht. Auch ein halbes Jahrhundert nach der Gebietsreform fahren die Bürger aus dem historisch königlich-bayerischen Laufen ihre Autokennzeichen „LF“ spazieren; der früher unabhängige Markt Berchtesgaden sein „BDG“ und das früher mondäne Staatsbad Bad Reichenhall macht sich mit „REI“ kenntlich. Ein differenziertes Vorgehen wäre hier absolut möglich.

Der vom Tourismus so abhängige aber eher isolierte Ort Berchtesgaden verzeichnete jedenfalls keine Infektionen unter Touristen – aber sie wurden auch nicht getestet. Auch ist es denkbar, dass das Infektionsgeschehen in den Gemeinden im Hochtal gelegenen Gemeinden ein anderes ist, als den salzburgerisch oder bayrisch geprägten flachen Teilen. Auf fast 840 km² verteilt leben etwas mehr als 100.000 Menschen in Kleinstädten und Dörfern. Ganz anders als zum Beispiel Berlin, in dem auf 890 km² mehr als 3,7 Millionen Menschen leben. Insofern liefert das ländliche Bayern ideale Bedingungen, um lokal fokussiert auf Ausbrüche zu reagieren – oder eben gar nicht. Es gibt keine vollgepackten Einkaufsstraßen oder Barmeilen, wie man sie in Berlin findet. Um nicht in Alpenromantik zu verfallen: Es gibt Industrie, ein Stahlwerk, alpine Luxusressorts und ein Bergwerk. Aber es ist eben auch ein relativ dünn besiedelter Landstrich. Wenn im bäuerlichen Dorf Anger eine Überschreitung des Grenzwertes von 50 Infizierten je 100.000 gemeldet werden dann reichen schon zwei Infizierte, um den willkürlichen Grenzwert zu überschreiten und Pandemie-Alarm auszulösen. Aber sind sie wirklich ein Problem? Wohl kaum. Es reicht aber, um den Ort wie auch Berchtesgaden durch aufgeregte Fernsehberichte zu schleifen und dauerhaft wirtschaftlich zu schädigen.

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Aber warum genau muss man dann den Touristenort Berchtesgaden schädigen, wenn die Hotspots zwei Berge und eine Flussüberquerung weit entfernt sind? Nur, wenn man die unmittelbare Überforderung des Gesundheitssystems fürchtet. Die Zahlen sind jedenfalls – noch – niedrig. Ob diese Gefahr einer Überlastung des lokalen Gesundheitssystems, geschweige denn des erweiterten oberbayrischen Gesundheitssystems droht, ist schwer zu sagen: Dafür bräuchte es aufgeschlüsselte Informationen zu Alter und Gesundheit der Infizierten. Auch ob die Infektionen auf den ganzen Landkreis verteil oder örtlich gehäuft vorkommen, ist nicht klar – eine dahin gehende Anfrage an das Landratsamt blieb unbeantwortet. In einer Pressekonferenz sagte der Landrat Bernhard Kern, dass keine Gemeinde „auffällig“ sei. Also gleich viele Fälle in Regionen, die wenig Kontakt zueinander haben?
Die Zahlen der im Krankenhaus intensiv behandelten hinken den Infektionen deutlich hinterher. Insofern ist vorsicht durchaus angebracht. Doch auch andere Fragen sind offen. Wie viele der positiv Getesteten zeigen Symptome? Im bundesweiten Durchschnitt sind es nicht ganz 84 Prozent, Angaben für Berchtesgaden würden zeigen, wie vergleichbar die Situation ist. Wie viele der getesteten Personen werden voraussichtlich schwere Symptome entwickeln? Hier hat die Landbevölkerung den Vorteil, dass Wandern und Sport an der frischen Luft weiter verbreitet sind, und den Nachteil das die Landbevölkerung im Durchschnitt älter ist. Das Alter der Positiv-Getesteten ist dabei nicht der einzige, aber doch der wichtigste Indikator. Die Inzidenz pro hunderttausend Einwohner ist deswegen als bevölkerungsrelative Zahl errechnet, weil es das Vergleichen unterschiedlicher Landstriche vereinfacht – doch es verkennt eben auch die Unterschiede der Regionen.

260 Corona-Fälle in einer Bevölkerung von 100.000 Menschen, in einem Teil eines Landes mit mehr 83 Millionen Einwohnern sind eine andere Problematik als wenn die Inzidenz in einer dicht bevölkerten Stadt genauso hoch ist, die aber einen größeren Bruchteil der Gesamtbevölkerung des Landes ausmacht. Aber solche Diskussionen sind kaum möglich. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gibt im Landtag zwar im Nachhinein Regierungserklärungen ab er stellt sich nicht einer ordentlichen Debatte, beklagt der stellvertretende FDP-Landtagsabgeordnete  Albert Duin. „Kennt Söder eigentlich das Berchtesgadener Land oder nur die Hinterzimmer in Berlin?“ Auch die Freien Wähler, immerhin Koalitionspartner der CSU, schweigen mit geballter Faust in der Tasche. Söder beherrscht das Machthandwerk, wie es Angela Merkels vorgeführt hat: Abhängigkeiten schaffen, Widerspruch wegdrücken.

Das ist auch deswegen möglich, weil sich deutsche Parlamente längst als Regierungschef-Wahlvereine und Minister-Personal-Reserve verstehen und nicht als eigenständige demokratische Institutionen. Wenn dies anders wäre, müsste Söder sich rechtfertigen. Und vielleicht würde er auch recht kriegen: auch das wäre besser als der jetzige Zustand. Es zeigt sich wieder einmal die Problematik der Pandemie, dass man sie ernst nehmen muss – aber es auch leicht ist in schnell schießenden Aktionismus zu verfallen, der Schäden anrichtet die die Pandemie vielleicht nicht angerichtet hätte. Doch ohne ein Parlament, das sich auch als solches begreift ist dies nicht möglich. So kann Söder durchregieren, ohne Begrenzung und sein Image als entscheidungsfreudiger, harter Politiker pflegen. Auch, wenn ein ganzer Landstrich vor die Hunde geht. Details interessieren nicht auf dem Weg zur Macht.

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