Tichys Einblick
Staatsposse oder Demokratiedilemma?

Benötigt Bodo Ramelow nur eine einzige Stimme, um Ministerpräsident zu werden?

Um die Demokratie, die Jurist Morlok auf die Arbeitsfähigkeit oder das Zustandekommen einer Regierung reduziert, nicht zu verletzen, rechtfertigt er ein undemokratisches Verfahren.

Emmanuele Contini/NurPhoto via Getty Images

Bisher schien die Frage der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen, die Anfang Februar erfolgen soll, eindeutig. Dem Amtsinhaber fehlen vier Stimmen, um wiedergewählt zu werden, genauer, ihm würden auch vier Stimmenthaltungen genügen. Sollten allerdings alle Abgeordneten der Opposition in allen drei Wahlgängen gegen Bodo Ramelow votieren, wäre sein Wahl fehlgeschlagen. So weit so klar.

Nun tauchte allerdings ein Gutachten auf, dass vom Thüringer Justizministerium im Jahr 2014 in Auftrag gegeben worden war. Und damit wird die gewiss schon verzwickte politische Situation in Thüringen noch komplizierter, denn, so könnte man spotten, sie gerät nun unter die Juristen.

Dem Juristen Martin Morlok gelingt es in seinem Gutachten, in einem schon bewunderungswürdigen Akt von Kasuistik zu argumentieren, dass im dritten Wahlgang bereits eine einzige Ja-Stimme genügen würde, unabhängig von der Anzahl der Nein-Stimmen, damit Bodo Ramelow gewählt werden würde, weil die Nein-Stimmen und Stimmenthaltungen im dritten Wahlgang nicht gezählt werden dürften. Feine Sache, demnach können die Abgeordneten der Linken, der Grünen und der SPD am Wahltag blau machen, denn Bodo Ramelow könnte sich, wenn nur eine Ja-Stimme benötigt wird, der Einfachheit selbst wählen.

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Martin Morlok legt zur Begründung den Artikel 70, Absatz 3 der Landesverfassung Thüringen aus, in dem es heißt: „Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt. Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält.“

Und um den Begriff die „meisten Stimmen“ geht es. Morlok kommt zu der Schlussfolgerung: „Tritt im Wahlgang nach Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf nur ein Bewerber an, so ist er mit jeder Zahl der für ihn abgegebenen Stimmen gewählt, unabhängig von der Zahl der nicht für ihn abgegebenen Stimmen.“ Er begründet die verblüffende Ansicht, dass Nein-Stimmen nicht zu zählen seien, damit, dass die oberste Aufgabe des Parlaments darin bestünde, eine handlungsfähige Regierung zu bilden: „Das Ziel einer Regierungsbildung rechtfertigt das Absenken des Legitimationsniveaus. Ein im dritten Gang gewählter Ministerpräsident ist in der Regel ein Minderheiten-Ministerpräsident.“

Weil also Morlok voraussetzt, was im Übrigen zu bestreiten ist, dass die oberste Aufgabe des Parlaments darin besteht, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, stellt er das demokratische Verfahren auf den Kopf, wenn er behauptet: „Im Meiststimmenverfahren wird derjenige Kandidat gewählt, der relativ zu den übrigen Kandidaten die meisten Stimmen auf sich vereint. Bei mehreren Kandidaten hat er regelmäßig mehr Stimmen gegen sich als für sich. Daran ändert sich nichts, wenn nur ein Kandidat zur Wahl steht.“ Wenn es nur einen Kandidaten gibt, genügt eine Stimme, weil der Kandidat selbst mit einer Stimme eine Mehrheit im Vergleich zu den anderen Kandidaten hätte, da es keine anderen Kandidaten gibt. Das hat bestens in der UdSSR und auch in der DDR funktioniert, da gab es dann auch immer nur einen Kandidaten, obwohl sich die Kommunisten schon um einen breite Zustimmung unter den Funktionären bemüht haben. Und auch sie sahen die Bildung einer handlungsfähigen Regierung als Hauptaufgabe des Parlaments an.

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Morlok dreht die Argumentation im Sinne eines Zirkelschlusses um, nur um zum gewünschten Ergebnis zu kommen: Würde der Ministerpräsident nicht gewählt, bliebe der vom vorherigen Landtag gewählte Ministerpräsident geschäftsführend im Amt. Da aber mit dem neugewählten Landtag die Legitimität des alten Landtages erloschen sei, würde „die Fortführung einer Landesregierung ohne parlamentarische Legitimation, gar auf unabsehbare Zeit…mit dem Demokratieprinzip (Art. 44 Abs. 1 S. 2, Art. 45 Abs. 1 S. 1 ThürVerf) unvereinbar sein. Weil aus Morloks Sicht die „erfolgte Neuwahl des Landtags…insofern auf unabsehbare Zeit ohne Konsequenzen für die politische Zusammensetzung der Landesregierung“ bliebe, würde „ein unhaltbarer Zustand“ gemessen am „Demokratieprinzip“ eintreten. Aus seiner Sicht sichert das „Meistimmenverfahren nach Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürVerf … demgegenüber die Relevanz der Landtagswahl und sorgt für die Neubildung einer legitimierten Landesregierung“. Fazit, um das Demokratieprinzip nicht zu verletzen, muss das Demokratieprinzip verletzt werden. Um die Demokratie, die Morlok auf die Arbeitsfähigkeit oder das Zustandekommen einer Regierung reduziert, nicht zu verletzen, rechtfertigt er das undemokratische Verfahren, Nein-Stimmen nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern nur Ja-Stimmen zu zählen, bei nur einem Kandidaten würde im Extremfall dann auch nur eine einzige Stimme genügen.

Nun hatte nach Eingang dieses Gutachtens der Präsident des Landtages von Thüringen ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben. Der Gutachter, Bundestagsdirektor a.D. Prof. Dr. Wolfgang Zeh, kommt im Gegensatz zu Martin Morlok zu dem Schluss, dass „alle bekannten Methoden der Verfassungsauslegung…zu dem Ergebnis“ führen, dass ein im „weiteren Wahlgang“ nach Art. 70 Abs. 3 Satz 3 alleine (ohne Gegenkandidaten) antretender Bewerber gewählt ist, sofern mehr Ja- als Nein-Stimmen für ihn abgegeben worden sind.“ Er weist daraufhin, dass mit „ die meisten Stimmen“ ein Mehr im Vergleich zu etwas anderem gemeint sein muss. Das Andere sind nach gut demokratischem Verständnis die Nein-Stimmen. Ausgehend von dem Rechtsgelehrten Gustav Radbruch bezeichnet Zeh die Regierung als „Fleisch vom Fleisch des Parlaments“ und beweist, dass keineswegs die oberste Aufgabe des Parlaments darin besteht, eine Regierung zu bilden. Wolfgang Zeh betont, dass die Nichtbeachtung der Nein-Stimmen das „verfassungsrechtlich hochrangige“ Prinzip der „Mandatsgleichheit“ verletzen würde.

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Weshalb soll eine Nein-Stimme weniger wert sein als eine Ja-Stimme und umgekehrt, eine Stimme mehr als eine andere Stimme gelten? Außerdem sei die Wahl eines Ministerpräsidenten nicht „eilbedürftig“, so dass eine „Missachtung der Gleichwertigkeit der abgegebenen Stimmen“ nicht „zu rechtfertigen wäre“. Hinzu käme sogar, dass ein Ministerpräsident, bei dessen Wahl es mehr Nein- als Ja-Stimmen gegeben hätte, keine hinreichende Legitimität zur Regierungsbildung besäße. „Ein allgemeiner Grundsatz, wonach bei einer parlamentarischen Wahl mit nur einem Bewerber allein die Ja-Stimmen zu werten und die Nein-Stimmen nicht zu berücksichtigen sind, existiert nicht“, urteilt Zeh.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob am Ende nicht das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit der Wahl Bodo Ramelows zum Ministerpräsident entscheidet. Und ob eine von ihm gebildete Regierung überhaupt demokratisch legitimiert sei?

Allerdings werden die Gutachten erst zum Politikum, wenn alle Oppositionsabgeordneten in allen drei Wahlgängen die Wahl Bodo Ramelows mit Nein verweigern. Danach sieht es momentan nicht aus. Die Abstimmung erfolgt laut Thüringer Verfassung geheim. Es genügen vier Stimmenthaltungen. Und es ist alles andere als ausgeschlossen, dass sich einige Abgeordnete der Opposition dazu bereit finden, den Linken-Politiker zu wählen – in bester Absicht sogar -, weil man bereits sinnvolle Projekte mit der Minderheitsregierung vereinbart hat, um dem Land zu dienen. Die Frage allerdings lautet, ob man damit dem Land tatsächlich dient, wenn man hilft, ein Fenster zu reparieren, dadurch aber den Zustand verlängert, dass es durchregnet?

Die Fragen lautet letztendlich immer wieder: Opposition oder Kohabitation. Wie immer man die Kohabitation ausgestalten würde, sie bliebe Kohabitation.

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