Tichys Einblick
Es geht um "Kinder für alle"

Bei der „Ehe für alle“ will Merkel keinen Fraktionszwang

Die Abgeordneten des Hohen Hauses will Merkel in Sachen „Ehe für alle“ nach ihrem Gewissen abstimmen lassen: Weil es für sie eine Gewissensache ist oder als eine Art Interimsdemokratie? Weil Schulz ihr einen „Anschlag auf die Demokratie“ vorwarf?

© Alexander Koerner/Getty Images

Angela Merkel spürte nach eigenem Bekunden so etwas wie eine emotionale Erregung und erinnerte sich für den Moment an die deutsche Verfassung. Ergebnis: Die Abgeordneten des hohen Hauses dürfen in Sachen „Ehe für alle“ nach Merkels Gnaden nach ihrem Gewissen entscheiden. Die Kanzlerin von Deutschland führt also eine Art Interimsdemokratie ein, weil ihr das Herz so weh tut? Oder doch eher, weil Martin Schulz in seiner 23-Prozent-Verzweiflung von einem „Anschlag auf die Demokratie“ sprach und dabei das System Merkel meinte? Und noch viel mehr, weil die möglichen Koalitionspartner der nächsten Legislaturperiode, SPD, FDP und Grüne, die „Ehe für alle“ zur Bedingung einer Regierungszusammenarbeit gemacht haben?

Daran erinnert, dass die Verfassung Koalitionszwänge eigentlich verbietet, hatte sich Angela Merkel jüngst auf einer Veranstaltung der alten westdeutschen Frauenzeitschrift Brigitte in Berlin. „Ich möchte die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke“, erklärte Merkel auf dem Podium richtungsweisend im typischen Merkelradebrech.

Von der Kanzlerin belohnt mit ihrer Anwesenheit bei Brigitte wurde wohl auch eine herzige Geschichte aus 2014, als die bei Gruner und Jahr erscheinende Zeitschrift einen Artikel veröffentlichte mit der Headline: „60 Dinge, die Sie noch nicht über Angela Merkel wussten.“ Da hieß es beispielsweise: „Die kleine Angela fing sehr früh an, zu sprechen. Und sehr spät an, zu laufen. – Die kleine Angela lernte erst mit fünf Jahren, einen Berg hinunterzugehen. –  Die kleine Angela spielte Blockflöte. Die kleine Angela wollte Eiskunstläuferin werden. Oder Ballerina. – Die kleine Angela sammelte Blaubeeren, um ihr Taschengeld aufzubessern. Vier Mark pro Kilo. – Der größte Mist, den die kleine Angela gebaut hat, war, mit dem neuen Trainingsanzug aus einem Westpaket in eine harzige Baumhöhle zu kriechen. – Worum Angela Merkel Männer beneidet: 1. Dass sie besser Holz hacken können. 2. Dass sie tiefere Stimmen haben.“

Was für ein trostloses Bild
Koalitionsbedingung "Ehe für alle"
Es geht also um die „Ehe für alle“. Jene Ehe für alle, über die Angela Merkel noch 2013 sagte: „Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich schwertue mit der kompletten Gleichstellung (…) Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt.“ Also nichts mit dem vollen Adoptionsrecht. Aber eben das ist ja Bestandteil der „Ehe für alle“ mit allen Rechten und Pflichten. Aktuell bleibt Homosexuellen die eingetragene Lebenspartnerschaft, eingeführt von der rot-grünen Koalition im Jahr 2001, als die Ehe für alle für SPD und Grüne noch kein Thema war und Schröder und Fischer in vierter bzw. fünfter Ehe verheiratet.

Die gemeinsame Adoption von Kindern blieb Homosexuellen also bisher verwehrt. Pflegeeltern allerdings dürfen sie sein. Bei einer Abstimmung im Bundestag ohne Fraktionszwang soll eine Mehrheit für die gleichgeschlechtliche Ehe als sicher gelten. Also auch für die Adoption. Kurios ist einmal mehr die Begründung der Kanzlerin für ihre Entscheidung, die Abgeordneten mal selbst entscheiden zu lassen, ohne sie für eine Ausscheren aus dem Koalitionszwang mit Pöstchenentzug oder der kalten Schulter der Merkelpartei abzustrafen. Ja, Angela Merkel hat ihre Haltung verändert. Ja, demnächst also herzige Selfies mit Kanzlerin auf dem Christopher Street Day.

Passiert ist es auf der Brigitte-Veranstaltung mit anschließenden Zuschauerfragen. Dort schilderte Angela Merkel ihre persönlichen Erfahrung aus ihrem Wahlkreis Vorpommern-Rügen, wo sie wohl Kontakt mit dem einfachen Volk hatte und leibhaftig einem lesbischen Paar mit acht Pflegekinder gegenüberstand. Wenige Monate vor der Bundestagswahl erklärte Angela Merkel gezeichnet von den Rügener Eindrücken: Wenn der Staat einem homosexuellen Paar Kinder zur Pflege gebe, „kann ich nicht mehr ganz so einfach mit der Frage des Kindeswohls argumentieren. Das sind Dinge, die mich sehr beschäftigen.“

Beschäftigen hätte sie sich vielleicht zunächst einmal damit sollen, wie es sein kann, dass der Staat guten Gewissens acht Kinder in die Obhut eines einzigen Paares legt. Denn mit acht Kindern dürften heutzutage Eltern generell überfordert sein, ganz gleich welchen Geschlechts – unabhängig davon, welche finanzielle Unterstützung da gewährt wird, wenn bei acht Pflegekindern eine wohl ordentliche Summe zusammenkommen dürfte (Grundpauschale gemäß gem. §§ 27, 33 und 39 SGBVIII pro Kind je nach Alter zwischen 745 und 913 Euro).

Zurück in die 70er
SPD-Parteitag: Die Sonderbare Partei Deutschlands
Nun ist das Für und Wider der „Ehe für alle“ hinreichend diskutiert worden. Teils mit harten Bandagen von beiden Seiten. Hauptargument der Gegner ist die angebliche Gefahr von Fehlentwicklungen bei der kindlichen Ausbildung der Geschlechteridentität. Hier liegt die Betonung allerdings auf „Fehl- “, was ja impliziert, das bei Homosexuellen etwas falsch laufen würde. So etwas sollte in einer modernen aufgeklärten Gesellschaft tatsächlich kein Argument mehr sein dürfen. Noch weniger, wenn man weiß, dass es immer noch Staaten gibt, mit denen Deutschland diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen pflegt, in denen Homosexuelle massiv verfolgt oder sogar umgebracht werden.

Interessanter dürfte hier die Feststellung sein, dass natürlich zunächst einmal für jede Adoption eines Kindes durch Homosexuelle eine Verbindung von Heterosexuellen gescheitert sein muss. Sei es aus sich heraus, durch Tod oder Krankheit. Nein, Kinder sind nicht von Anfang an elternlos, sie werden es per Schicksal. Auch Armut ist so ein Schicksal. Hat hier die Unterstützung der kinderreichen Ehe oder der allein erziehenden Mütter durch den Staat versagt, dass es hier zu Adoptionsfällen kommen muss, wenn verzweifelte Mütter ihre Kinder freigeben müssen?

Es gibt heute in Deutschland viele heterosexuelle Eltern, die auf die Adoption eines Kindes warten. Eltern, die in den überwiegenden Fällen keine bekommen können, also hier quasi schicksalhaft den homosexuellen Paaren gleichgestellt sind, denen es aus sich heraus ebenfalls nicht gegeben ist. Nein, es gibt keinen Überschuss an adoptionsfähigen Kindern. Die Frage der „Ehe für alle“  – allein bezogen auf das Adoptionsrecht – ist so mindestens in diesem Punkt Natur.

Schwierig wird es nur, wenn zukünftig Adoptionsentscheider mit einer Diskriminierungsklage rechnen müssen, wenn sie bei gleicher Eignung heterosexuelle Bewerber allein ihrer Heterosexualität wegen bevorzugen. Ob solche Prozesse dann dem Wohle der Kinder dient, bleibt eine weitere kritische Frage. Das Wohl kinderloser Eltern darf dabei nie im Vordergrund stehen.

Gestatten Sie mir noch einen Nachsatz zum lesbischen Paar mit den acht Pflegekindern. Nun lässt sich der Aussage von Frau Merkel nicht entnehmen, ob diese acht Kinder gleichzeitig oder der Reihe nach bei dem Paar zur Pflege untergebracht wurden. Sicher ist, dass Pflegschaften oft mit großem Arbeitsaufwand und hohen emotionalen Herausforderungen verbunden sind. Die biologischen Eltern haben teilweise Besuchsrechte, die Kinder können aber auch jederzeit zu den Eltern zurückgebracht werden, ohne dass es dann umgekehrt ein generelles Besuchsrecht gäbe. Es soll einige Pflegeltern geben, die hier traumatische Erfahrungen machen, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum emotional dem Pflegekind zuwenden und dann von einem auf den anderen Tag keinen Kontakt mehr haben dürfen. Also alles andere, als eine Aufgabe für die leichte Schulter.

Für die Bewilligung einer Pflegschaft sind vom Gesetzgeber wichtige Hürden gebaut worden. Wer Pflegevater oder -mutter werden darf, muss dafür oft auch von Berufs wegen besonders qualifiziert sein. Ein Anruf beim Landkreis Vorpommern-Rügen ergab ein durchaus differenziertes Bild. Wenn es sich bei dem von Frau Merkel gemeinten Paar um jenes handeln würde, an das die Dame der Pressestelle am Telefon gerade denke, dann wäre eine der Pflegmütter wohl sogar mal Frau des Jahres im Landkreis gewesen. Und dann würden einige der gepflegten Kinder sogar einer besonderen Pflege bedürfen. Man wissen von dieser Pflegschaft, dass hier auch später weiterhin familiäre Verhältnisse herrschen würden, was nicht die Regel und auch nicht Bedingung wäre. Wer bleiben wolle auch nach einem Ablauf der Pflegschaft, der könne in der Familie bleiben. Pflegschaften mögen so bereits für einige Homosexuelle Ersatz für Adoptionen sein. Die damit verbundene Arbeit und das große persönliche Engagement jedenfalls verdienen den Respekt unsere Gesellschaft.