Tichys Einblick
Fachleute: Eigentlich innerdeutsches Problem

Baerbock und Heil wollen viermal mehr Visa an „Fachkräfte“ verschenken

In Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Panama, Ghana und Indonesien wollen die Rot-Grünen in der Ampel „qualifizierte Fachkräfte“ anwerben. In Deutschland angekommen, sollen dieselben als erstes vom deutschen Ausbildungssystem profitieren. Das verstehe, wer will.

IMAGO / photothek

Baerbock und Heil auf großer Tour. Der rot-grüne Teil der Bundesregierung kann noch immer nicht genug bekommen beim Thema Zuwanderung nach Deutschland, während die FDP sehr vorsichtige Bremsmanöver ausführt. „Sechs Tage, fünf Orte, drei Länder“ und „ein Ziel“, dichtet das Auswärtige Amt dazu. Und dieses Ziel ist der Aufbau, die Stärkung von Partnerschaften mit Brasilien, Kolumbien und Panama in Süd- und Mittelamerika. Positiv fällt dem Amt an diesen Partnerländern auf, dass sie zwar „durch einen Ozean“ von uns getrennt sind, wir aber durch „unsere Werte“ mit ihnen verbunden seien.

Das ist recht praktisch: Die Lateinamerikaner haben zweifellos eine gute Injektion europäischer, auch christlicher Werte bekommen und lehnen sie nicht in der gleichen Weise ab wie andere Weltregionen. Aber sind die Länder deshalb ‚wertetechnisch‘ identisch mit uns? Wohl nicht. Außerdem gibt es auch schon „Absprachen“ mit Indonesien und Mexiko. Zuletzt hatte die Entwicklungsministerin zusammen mit Heil Ghana besucht – mit ähnlichen Zielen und Vorstellungen.

Nun sollen also Rio, Bogotà und Accra importiert werden, um in Hauptstädten zu sprechen, und das nicht etwa statt Bagdad, Herat und Aleppo, sondern zu diesen hinzu, über diese hinaus. Syrer, Afghanen und Iraker strömen noch immer als Not-und-Elend-Migranten ins Land. Aber auch für die Arbeitsmigration aus Südamerika gilt: Strenge Bedingungen und Regeln wären notwendig, um nicht die falschen ins Land zu locken, die man letzten Endes vielleicht nicht wieder los wird.

In ihrem Gastbeitrag für die FAZ vermissen die beiden Minister eine stärkere Fachkräftezuwanderung von außerhalb Europas. Im letzten Jahr habe es aus dieser Gruppe nur 100.000 Zuwanderer gegeben, und das reiche nicht. Man weiß nicht, wann es reicht und nach welchen Überlegungen diese Zahlen berechnet werden. Sicher scheint, die beiden Minister streben ein massives Zuwanderungsprogramm an, wenn sie bis Ende 2024 vier Mal so viele Visa an Fachkräfte ausstellen wollen wie bisher. Auf einer fortlaufenden Basis versteht sich. Gemeint ist eine Erhöhung der Kapazität. Schon im Fall Afghanistan ging es dem grün geführten Außenministerium ja offenbar um die Ausschöpfung eines Kontingents, komme, was da wolle.

Im vergangenen Jahr gingen die laut Auswärtigem Amt erteilten Visa in die Hunderttausende. Allein 152.336 nationale Visa wurden zum Zweck der Erwerbstätigkeit ausgestellt. Das sind 39 Prozent aller nationalen Visa. Hinzu kamen 872.308 von deutschen Auslandsvertretungen ausgestellte Schengen-Visa. Ein Vervierfachung könnte also einige hunderttausend Visa zusätzlich bedeuten.

Patientenschützer: Pflegekräftemangel ist „innerdeutsches Problem“

In Brasilien soll das Arbeitskräftepotential im Pflegebereich groß sein. „Brasilianische Pflegekräfte und kolumbianische Elektriker finden in Deutschland bereits offene Arme. Diese Partnerschaft wollen wir ausbauen“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) über die anstehende Auslandsreise. In Brasilien soll jede zehnte Pflegekraft arbeitslos sein. Ähnliche Nachrichten hört man allerdings auch aus Italien. Warum versucht man nicht im Süden des EU-Landes sein Glück? Allerdings brauchen alle diese Pflegekräfte eine weitere Ausbildung in Deutschland. Und die Sprache sollten sie vielleicht auch irgendwie beherrschen, egal ob sie im Klinikum oder in der Altenpflege arbeiten. Allerdings wird das nicht immer so klar kommuniziert. Die brasilianische Zeitung O Globo schreibt vielmehr: „Deutschkenntnisse sind keine Voraussetzung.“ Die Sprache lernt man dann wohl im Job.

Daneben sind auch Fachleute wie Eugen Brysch von der Stiftung Patientenschutz eher skeptisch, was den Erfolg all der Anwerbemaßnahmen für die konkrete Pflege angeht. Vielmehr seien bessere Arbeitsbedingungen der Schlüssel zu einem Ausbau der Beschäftigung bei den Teilzeitbeschäftigten und eine Rückkehr anderer inländisch schon vorhandener Fachkräfte. Brysch nennte hier die Zahl von 300.000 vielleicht verfügbaren Pflegekräften. Der Mangel an Pflegekräften sei vor allem „ein innerdeutsches Problem“: „Das werden auch die wenigen zusätzlichen hundert brasilianischen Pflegerinnen und Pfleger nicht lösen.“ Arbeitsminister Heil widerspricht hier einfach mal, und wie es scheint, vollkommen sach- und faktenfremd.

Denn in der Tat: Die Bundesagentur für Arbeit betreut derzeit gerade einmal 374 Bewerber aus Pflegeberufen (im ganzen letzten Jahr waren es knapp über 650), daneben 43 aus Handwerks- oder technischen Berufen und noch einmal 42 aus der Welt der Ingenieure und IT-Spezialisten. Das erscheint ausbaufähig. Man fragt sich, wie sich die Vervierfachung der Visa auf die Agentur auswirken wird. Auf der anderen Seite kann man auch fragen, ob die eingeladenen „Fachkräfte“ dann auch wirklich im Arbeitsmarkt ankommen. Heil glaubt an die Anwerbung von bis zu 700 Pflegekräften pro Jahr. Das ist sehr zurückhaltend ausgedrückt. Denn letztes Jahr waren wir praktisch schon da. Ist die ganze Initiative also nur ein Täuschungsmanöver?

Eine „Gewinnsituation“ für die Menschen, um die es geht?

Nachdem Entwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) in einem Interview mit den Funke-Medien angeregt hat, „Fachkräfte“ aus Indien und Ghana nach Deutschland zu ziehen, hebt nun Arbeitsminister Hubertus Heil (ebenso Sozialdemokrat) hervor, dass die geplante Anwerbung von ausgebildeten Kräften, die „Fachkräftemigration“ also, eine „Gewinnsituation“ sein müsse – für das Herkunftsland, für die „Menschen selbst, um die es geht“, und für das aufnehmende Land.

Aber hier stimmt etwas nicht mit Heils Logik: Entweder handelt es sich um gute, echte Fachkräfte, dann wird Brasilien sie vermutlich nicht einfach so und ohne Reue hergeben. Oder es sind doch eher weniger qualifizierte Kräfte, die Brasilien verschmerzen kann, von denen dann aber auch Deutschland nichts hat. Für die Migranten, die derart migrieren, ist es natürlich ohnehin gut. Denn sie können in Deutschland in den allermeisten Fällen besser leben als in ihren Herkunftsländern – auch dank einem sozialen Sicherungssystem, das noch immer seinesgleichen sucht und noch immer kaum im Sinne des protestantischen „Fordern sund Förderns“ funktioniert, das einst Gerhard Schröder (auch noch SPD) in politischen Umlauf brachte.

Eines von Hubertus Heils Argumenten für den Zuzug von Fachkräften: „Es geht darum, dass wir eine gute Ausbildung in Deutschland haben.“ Darum geht es aber dann wohl nur für die, die sich hier bei uns dual oder wie auch immer ausbilden lassen wollen – nicht für die fertigen Fachkräfte. Der Minister enttarnt so seine eigenen Nebelgranaten. Auch in Indien oder vielen afrikanischen Ländern ist die Arbeitslosigkeit hoch, wie Svenja Schulze weiß. Für diese Länder steht der Nutzen also fest.

Wenn sich dieser Verdacht bestätigt und es vor allem um wenig qualifizierte Menschen geht, dann greift zudem ein weiterer Einwand gegen deren massenhaften Zuzug: Sie entheben einheimische Arbeitgeber der Kreativität, selbst für die notwendigen Lösungen mit weniger Personalbedarf zu sorgen. Das ginge auf viele Wege. Sie sind ein Hemmnis für die Automatisierung, aber auch für vieles andere, vielleicht sogar für menschliche Arbeitsverhältnisse. Zum Beispiel dürfte ein Überangebot an Pizzaboten deren Verdienstchancen nicht erhöhen. Es schafft aber sehr wohl Gewohnheiten und ein Umfeld, in dem immer mehr Pizza zu Hause gegessen wird, wobei die eigentliche Gastronomie, auch das (an sich gesündere) Kochen zu Hause an Zuspruch verlieren.

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