Tichys Einblick
Tragen eines Davidsterns als Provokation?

Antisemitischer Angriff bei Palästina-Demo: Der Tagesspiegel kritisiert die Opfer

Am Rande einer antiisraelischen Demo auf dem Berliner Hermannplatz kommt es zu einem Übergriff: Weil zwei Freundinnen einen Davidstern um den Hals trugen. Für den Tagesspiegel Anlass über "kluges situatives Verhalten" zu philosophieren - und ein schulbuchreifes Beispiel für Täter-Opfer-Umkehr zu liefern.

IMAGO / Jürgen Ritter

Auf der großen israelfeindliche Demo am 15. Mai am Hermannplatz in Berlin kommt es zu einem antisemitischen Übergriff, drei Freunde, von denen zwei eine Davidstern-Kette tragen, werden körperlich angegriffen und aufs übelste beleidigt. Ein Mann droht: „Ich spucke euch in die Fresse“ und: „Ihr seid nur hier, um zu provozieren.“ Eines der Opfer sagt hinterher: „Das Tragen eines Davidsterns als Provokation? Das ist zutiefst antisemitisch“. Später muss man sich vor der Polizei noch rechtfertigen, warum man auf so eine Demo mit Davidsern auftrat. Der Vorfall wird von der Polizei nicht gemeldet – öffentlich gemacht wurde er durch einen Artikel des Tagesspiegel. Eine anerkennenswerte journalistische Leistung. Doch der Tagesspiegel wäre nicht der Tagesspiegel, wenn er jeden Anflug von Vernunft nicht im nächsten Atemzug völlig vor die Wand fahren würde – und genau das ist geschehen.

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Es folgte in der Zeitung nämlich ein Kommentar zum Vorfall unter dem Titel „Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch klug“ von Malte Lehming, der als leitender Redakteur der Zeitung aufgeführt wird. Der Autor war 2010 scheinmal durch eine intellektuelle Sternstunde zu fragwürdigem Ruhm gelangt als er schrieb: „Lieber ein paar junge, ausländische Intensivtäter als ein Heer von alten, intensiv passiven Eingeborenen.“

Sein Kommentar jetzt, vom Mittwoch liest sich, als würde jemand den Versuch unternehmen, ein schulbuchreifes Paradebeispiel für Täter-Opfer-Umkehr zu liefern. Natürlich fügt Lehming hinzu: „Das Opfer bleibt immer Opfer, ist niemals auch nur mitschuld an den Taten der Täter“. Wenn das nächste Wort im Text allerdings „Aber“ ist, ist eigentlich alles gesagt. Wer andere Leute angreift, müsse zwar bestraft werden, „Das allerdings heißt nicht, dass jede Debatte über ein kluges situatives Verhalten überflüssig ist.“, schreibt er. 

„Kluges situatives Verhalten“ – damit ist gemeint, dass die Opfer die Davidsternkette lieber gar nicht hätten tragen sollen. Der „common sense“ gebiet es nämlich, zwischen Erlaubten und „Gebotenem“ zu unterscheiden. Zum einen möchte man fragen: Warum eigentlich? Auf diesen Demos sind doch eigentlich nur Israelkritiker, gegen Juden haben die doch nichts (heißt es jedenfalls immer). Oder doch nicht? Sind Palästina-Demos No-Go-Areas für Juden?

Lehming fragt weiter: „Wer fühlt sich wodurch provoziert?“ Er vergleicht die Situation damit, mit einem Antifa-Shirt auf eine Reichsbürger-Demo zu gehen oder einen AfD-Stand in der Rigaer Straße aufzubauen. Wie der Tagesspiegel im Ursprungsartikel zum Vorfall allerdings selbst schreibt, waren die drei Personen nicht auf der Demo, um zu provozieren oder überhaupt politisch etwas kundzutun. „Die beiden Frauen sind auf dem Weg zu Freunden. Sie wurden zum Shabbat-Essen eingeladen. Adam treffen sie zufällig auf dem Hermannplatz. Lara und Louisa tragen jüdische Symbole wie einen Davidstern als Kette um den Hals.“ heißt es dort.

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Aber egal. Ständig betont der Autor natürlich: Die Opfer seien die Opfer und nicht die Täter, da wolle man nichts durcheinanderbringen. Aber irgendwie sollen sich die Opfer eben auch falsch verhalten haben. Doch dann bleibt die Frage übrig: Warum dieser Text? Was will uns der Tagesspiegel-Autor sagen? Was ist Botschaft dieses Kommentars? Die Juden brauchen sich auch nicht zu wundern? Dass Juden in Deutschland in Zukunft besser ihre Davidsterne heimlich tragen sollten, um „legitime Israelkritiker“ nicht zu provozieren?

Was für eine unfassbare Verdrehung: Was hier nur mäßig verdeckt gefordert wird, ist, dass jüdische Symbole schrittweise aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden sollen: aus Rücksicht vor den Befindlichkeiten von Judenhassern. Das schimpft sich dann wohl Deeskalation – oder „common sense“? Anstatt sich die Farge zu stellen, wie weit es gekommen ist, dass es in Deutschland No-Go-Areas für Juden gibt, will man Juden darüber belehren, wie sie mit diesen No-Go-Areas umzugehen hätten.

Appeasement ist gar kein Wort – hier wurde eine Grenze überschritten. Will der Tagesspiegel das wirklich so stehen lassen?

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