Tichys Einblick
Vor der De-Industrialisierung?

Wie Deutschland die Stahl-, Alu- und Chemie-Industrie an die Wand fährt

Selbst wenn die Bundesregierung auf EEG-Zuschlag und Stromsteuer verzichten würde, wäre die Stromenergie noch mehr als zehnmal so teuer wie Kohleenergie aus Australien oder Russland.

Sean Gallup/Getty Images
Als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) Mitte Dezember 2019 ihren „European Green Deal“ großspurig als „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ vorstellte, jubilierten unisono Umweltverbände und private „Klimaschützer”. Nun gut, dass die angestrebte Transformation der Industrie – so nennt man deren Zerstörung mit dem Versprechen eines Neuaufbaus – zunächst für die nächste Dekade eine Billion Euro kosten soll, das muss man eben hinnehmen. Mit Sicherheit werden es dann noch mehr Billionen. Das ist aber kein Problem, denn so wie der Strom aus der Steckdose kommt, so sprudelt das Geld eben aus der Europäischen Zentralbank. Zumindest bis andere Quellen erschlossen oder konfisziert werden.

Oberstes Ziel der EU-Kommission (siehe Website ec.europa.eu) ist angeblich die Verbesserung des Wohlergehens der EU-Bürger bei gleichzeitiger Schaffung eines „klimaneutralen” Europas und Schutz unseres natürlichen Lebensraums. Eigentlich wäre dies eine schöne Idee für die rund 510 Millionen Menschen in der EU, wären da nicht die anderen 7,2 Milliarden auf unserem Planeten, die vergeblich auf eine sprudelnde Geldquelle für ihre Wirtschaftstransformation hoffen werden. Machen wir dazu das, was die Kommissionspräsidentin und ihre Untergebenen vor der großen Proklamation hätten tun müssen: Daten sammeln, Daten auswerten und die Grundrechenarten anwenden.

Dreh- und Angelpunkt ist die Vermeidung aller Mengen an CO2-Emissionen sowie anderer Treibhausgase, die nicht über Pflanzen an Land und im Wasser durch Photosynthese kompensiert oder anderweitig rasch abgebaut werden können. So ist „Klimaneutralität” definiert. Folglich bedeutet das den Ersatz aller fossiler Energiequellen, also Kohle, Erdöl und Erdgas bis auf einen winzig kleinen Rest – aber auch von Holz als Brennstoff, sofern das verfeuerte Holz nicht durch Neuanpflanzung in gleichen Holzäquivalenten ersetzt wird.

Um welche Mengen geht es eigentlich? Seit 1990 ist der Weltenergieverbrauch bis 2019 ziemlich linear von 7,9 auf 14 Milliarden Tonnen Öläquivalente (TOE) pro Jahr gestiegen, im Durchschnitt um 1,3% jährlich. In der EU stieg im gleichen Zeitraum bis 2005 der Verbrauch von 1,6 auf 1,84 Milliarden TOE an, um dann jährlich um 0,4% auf knapp 1,6 Milliarden TOE zu sinken (Quelle: BP Energy Outlook 2019 Edition; im Vergleich: Eurostat gibt für 2018 1,55 Mrd. TOE an.) Diese Mengen an Primärenergie sind also bis 2050 durch regenerative Energien zu ersetzen, wobei eine Million TOE einer elektrischen Energie von rund 116 Milliarden Kilowattstunden entspricht.

Beschränken wir uns hinsichtlich der Klimabemühungen auf Deutschland und die Folgen für Industrie und Produzierendes Gewerbe. In Anlage 2 Bundesgesetzblatt (17. Dez. 2019) wird die zulässige Jahresemissionsmenge für 2030 vorgegeben: Bezogen auf 2020 geht es in Summe um eine Reduktion um 33,2%. Im Klartext heißt das: Innerhalb von zehn Jahren muss der Primärenergieverbrauch um ein Drittel reduziert und, sofern nicht durch Energiesparmaßnahmen kompensiert, durch regenerative Energie ersetzt werden. Ohne Kernenergie und Erneuerbare betrug der Primärenergieverbrauch 2018 10.420 PetaJoule = 2,9 Billionen Kilowattstunden (Quelle: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Stand August 2019). Unterstellen wir, durch Energieeinsparung verblieben 25% für Deckung durch Erneuerbare zur Zielerreichung 2030, dann müssten in Deutschland 723 Milliarden kWh durch Photovoltaik und Windkraft zusätzlich zu den heute bestehenden Anlagen gebaut werden. Dabei gehen wir davon aus, dass der in Deutschland gestrichene Kernenergieanteil dann aus Frankreich kommt, wie Baden-Württembergs Ministerpräsident anlässlich der Abschaltung des KKW Philippsburg verlauten ließ.

Besteht Deutschland demnächst nur noch aus Windrädern und Photovoltaikfeldern?

Wieviel liefern die bestehenden Anlagen? Die knapp 30.000 Onshore-Windkraftanlagen erzeugten 2019 99,6 Milliarden kWh, pro Anlage im Durchschnitt 3,32 Millionen kWh. Jede der rund 1.300 deutschen Offshore-Anlagen lieferte durch-schnittlich 24,2 Millionen kWh (Quelle: Bundesverband WindEnergie). Nicht zu vergessen die installierten Photovoltaikanlagen, die bei durchschnittlich 1.815 Stunden Sonnenscheindauer 2019 in Deutschland pro Quadratmeter PV 102 kWh erzeugten (Quelle: ISE Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme).

Dann bestünde zusätzlich zum Bestand mindestens ein Anlagen- bzw. Flächenbedarf von

  • 218.000 Onshore WKAs mit 10.900 km² Landbedarf oder
  • 30.000 Offshore WKAs mit 3.400 km² Wasserfläche oder
  • 28.400 km² Photovoltaikfläche oder
  • ein Anlagenmix aus den Dreien.

Theoretisch und auch sicherlich praktisch ließen sich in der Nordsee jenseits der 12-Meilenzone auf einer Fläche von rund 60×60 Kilometern die Offshore-WKAs unter-bringen, ebenso die Photovoltaik als Pachtfläche in der Landwirtschaft – anstelle der Anbauflächen für Biogasanlagen, die in der CO2-Bilanz mehr emittieren als Gas-kraftwerke. Onshore-WKAs in größerer Zahl sind angesichts des Widerstands in weiten Teilen der Bevölkerung illusorisch.

Bis 2050 sollen dann weitgehend alle Bereiche verstromt sein. Also 2,8 Billionen minus 723 Milliarden kWh. Wie viele WKAs und km² Photovoltaik dazu nötig wären, kann der Leser anhand der Zahlen oben selbst ausrechnen. Lassen wir dabei einen Rest von 10% fossiler Stoffe.

Soweit die Theorie und das Wunschdenken, das die Profiteure der Erneuerbaren und deren Freunde in den Parlamenten wie ein Mantra vor sich hertragen. Selten werden dabei die täglichen, wöchentlichen und jährlichen Strombedarfsschwankungen erwähnt, die man als Ganglinien oder als Zappelstrom bezeichnet. Dies aber kann nur mit konventionellen Kraftwerken ausgeglichen werden. Denn ein Vorratsspeicher an „sauberer“ Energie ist nicht vorhanden, und es wird ihn auch nicht bis 2030 geben. Er wäre ohnehin nur sinnvoll auf der Basis von Wasserstoff, was wiederum einen doppelten Energieaufwand für den Vorrat bedeuten würde. Denn Wasserstoff lässt sich ausschließlich aus Wasser durch Elektrolyse mit „grünem“ Strom klimaneutral gewinnen – mit derzeit maximal 80% Wirkungsgrad. Und die Umkehrung via Brennstoffzelle oder Gasturbine liefert leider nur maximal 60% Wirkungsgrad. Um also 100 kWh Reserve zu haben, muss man über 200 kWh aufwenden. Die großtechnische klimaneutrale thermische Spaltung von Methan zu Wasserstoff und Kohlenstoff ist derzeit noch in Entwicklung, das Ergebnis ist offen.

Insofern wird in dieser Dekade fast alles beim alten bleiben. Wären da nicht das Klimaschutzprogramm und das am 12. Dezember 2019 verabschiedete Bundes-Klimaschutzgesetz. Belastete bisher der CO2-Emissionshandel Energiewirtschaft und Industrie mit relativ moderaten Preisen, so wird es jetzt zusätzlich für Verkehr, Gebäude und Verbraucher richtig teuer. Ab 2021 sind es dann 25,- Euro pro emittierte CO2-Tonne, bis 2025 in Stufen bis 55,- Euro und 2026 zwischen 60,- und 65,- Euro.

Drohendes Aus für die deutsche Eisen-, Stahl-, und Alu-Industrie

Dazu drei Beispiele. Die Eisen- und Stahlindustrie in Deutschland ist der siebtgrößte Produzent weltweit und befindet sich in hartem Preiskampf mit Erzeugern in Indien
und China, zudem gibt es ein Überangebot. Bei den in Deutschland erzeugten 44,2 Millionen Tonnen Stahl werden produktionsbedingt mindestens 66,5 Millionen Tonnen CO2 emittiert, also wird jede Tonne erzeugter Stahl ab 2021 mit 36,61 Euro CO2-Steuer belastet. Vorerst, denn vier Jahre später sind es 82,75 Euro. Unlegierter Baustahl kostete, Stand November 2019, 530,- Euro, mit der Steuer ist das also eine Verteuerung um 7,1 bis dann 15,6%, was selbstverständlich auf den Automobil- und Maschinenbau durchschlagen wird – neben allen anderen Branchen, die Stahl benötigen. Narren wären Unternehmen, die nicht billigeren Stahl aus dem Ausland bezögen. Gleiches gilt für die Aluminiumerzeuger, die bei einem bisherigen Marktpreis von 1,58 Euro/kg noch 6,1 bzw. ab 2025 13,4 Cent schlucken müssten.

Deutsche Chemieindustrie nicht mehr konkurrenzfähig

Beispiel chemische Industrie, dem energieintensivsten Industriezweig: Nach Schätzungen des Verbandes der Chemischen Industrie wird die CO2-Emission 2020 etwa 113 Millionen Tonnen betragen, wofür nächstes Jahr mehr als 2,8 Milliarden und 2025 6,2 Milliarden Euro CO2-Steuer fällig wären, was dann immerhin 3% des Branchenumsatzes ausmacht. Die sechs wichtigsten Basischemikalien, darunter Chlor, Ammoniak, Methanol und Harnstoff als Ausgangsstoffe für eine Unmenge an Produkten, könnten einer Studie zufolge mit einem Investitionsaufwand von 45 Milliarden Euro ganz auf Strom als Energiequelle hergestellt werden. Aber vor 2030 lässt sich das nicht realisieren, und schlimmer noch, der erforderliche Strombedarf wird bei weitem nicht zur Verfügung stehen. Ideale Voraussetzungen also, die Herstellung von chemischen Grundstoffen Firmen in Indien oder China zu überlassen. Dort werden ohnehin bereits viele Arzneiwirkstoffe und andere Chemikalien synthetisiert, weil deren Herstellung in Europa zu teuer geworden ist.

Zement wird teurer

Als drittes Beispiel die Baustoffindustrie: Ob Zement- oder Ziegelherstellung, ohne fossile Befeuerung gibt es keinen Brennvorgang. Pro Tonne Zement wird nach An-gaben des Vereins Deutscher Zementwerke e.V. eine Tonne CO2 in die Luft gepustet. Insgesamt 33 Millionen Tonnen im Jahr. Eine Tonne Zement lose kostet in Deutschland derzeit zwischen 133,- und 257,- Euro je nach Qualität. Plus CO2-Zuschlag. Portlandzement ist auf dem Weltmarkt zwischen 49,- und 51,- US$ zu haben. Noch Fragen zur Wettbewerbsfähigkeit?

Solange ein – relativ – freier Welthandel existiert, werden Wirtschaftsgüter dort produziert, wo die Konditionen am günstigsten sind. Der Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Energiekosten. Dazu zum Nachdenken: Eine Kilowattstunde Industriestrom kostet derzeit für Großabnehmer 18,55 Cent/kWh in Deutschland inkl. EEG und Stromsteuer. Steinkohle mit einem mittleren Brennwert von 8 kWh/kg kostet auf dem Weltmarkt aktuell 46,05 US$/Tonne. Umgerechnet sind das 0,52 Euro-Cent je kWh Energie.

Selbst wenn die Bundesregierung auf EEG-Zuschlag und Stromsteuer verzichten würde, wäre die Stromenergie noch mehr als zehnmal so teuer wie Kohleenergie aus Australien oder Russland. In China werden zwar im Ländervergleich am meisten Photovoltaikanlagen gebaut, aber gleichzeitig wesentlich mehr Kohlekraftwerke. So etwa im Verhältnis David zu Goliath. Angesichts dieser Zahlen und der Tatsache, dass in China fast jede Woche ein neues Kohlekraftwerk ans Netz geht, gefolgt von Indien, wird die Umweltpolitik der deutschen Regierung zur Farce. Gestoppt wird dadurch nicht die globale CO2-Emission, sondern gefördert wird die De-Industrialisierung im Verein mit einer gewaltigen Teuerungswelle für alle Menschen im Land. Daran wird auch das Versprechen nichts ändern, die Bahntickets billiger zu machen und die Pendlerpauschale höher zu setzen. Klimaneutralität bleibt Wunschdenken, solange nicht alle Staaten weltweit dieses Ziel verfolgen.


Dr. rer. nat. Heinrich Zettler, promovierter Chemiker und Unternehmer. Zuletzt hat er bei TE über „E-Auto: Anstatt Verbrennungsmotor ein Holzweg“ geschrieben:

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