Tichys Einblick
Nach Unilever:

Öl-Konzern Shell verlässt die EU

Der Energie-Konzern verlagert seine Zentrale komplett nach London. Er reagiert damit auch auf ein EU-Gerichtsurteil – und die niederländische Steuerpraxis.

Shell-Tankstelle in Kopenhagen

IMAGO / Dean Pictures

Jahrzehntelang gehörten zwei Konzerne mit zum europäischen Unternehmensadel, die mit einem Fuß auf dem Kontinent und dem anderen auf der Insel standen: der Lebens- und Waschmittelhersteller Unilever und der Energieriese Royal Dutch Shell, jeweils beheimatet in den Niederlanden und Großbritannien. Unilever entschied sich mit der Mehrheit seiner Aktionäre schon 2020 dafür, die zweite Zentrale in Rotterdam aufzugeben, und ganz zu einem britischen Unternehmen zu werden. Jetzt zieht auch Shell nach und gibt seinen Sitz in Den Haag auf. Den Namenszusatz Royal Dutch wirft der 1907 gegründete Konzern mit weltweit 86.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von gut 180 Milliarden Dollar (2020) ebenfalls ab. Demnächst – nach der formalen Aktionärsabstimmung am 10. Dezember – heißt er nur noch Shell plc und residiert künftig ausschließlich in London. Er sei „unangenehm überrascht“, kommentierte der niederländische Wirtschaftsminister Stef Blok von der Regierungspartei VVD mit. Überraschend ist eher Bloks Verblüffung – falls sie echt sein sollte. Denn über einen Weggang aus der EU diskutieren Shell und die Öffentlichkeit seit mindestens einem Jahr. In der Zeit unternahm die niederländische Regierung von Mark Rutte offenbar nichts, um den Konzern zu halten.

In den Niederlanden dürfte Shell auch in Zukunft präsent bleiben. Auf die Arbeitsplätze dürfte sich der Umzug nur wenig auswirken – dafür aber sehr auf die Steuereinnahmen.

Schon bei Unilever führte die niederländische Dividendensteuer, die es in Großbritannien nicht gibt, zu der Umzugsentscheidung. Premier Rutte plädierte zwar dafür, die Steuer abzuschaffen, fand dafür aber keine Mehrheiten. In den Plänen von Shell spielt diese Steuer eine wichtige Rolle. Im Juli startete der Konzern ein Aktienrückkaufprogramm in Höhe von 2 Milliarden Dollar, das aber nur einen Anfang darstellen soll. Ein weiteres Rückkauf-Programm im Umfang von 7 Milliarden  Dollar soll dazukommen.

Den Ausschlag gab offenbar ein Urteil des Bezirksgerichts von Den Haag vor wenigen Monaten: Die Richter entschieden nach einer Klage der Umweltlobbygruppe MilieuDefensie, Shell müsse seine Nettoemissionen bis 2030 um 45 Prozent senken – und damit sehr viel schneller und stärker, als es das Management des Energieunternehmens selbst plante. Das Urteil wurde von Greta Thunberg, Fridays for Future, vielen Medien und den holländischen Grünen als bahnbrechend gefeiert – und als Auftakt für eine Serie ähnlicher Klagen gesehen. Schon 2019 hatte Thunberg gegen das Unternehmen agitiert, das für sie die schlechte fossile Welt verkörpert.

Screenprint via Twitter / Thunberg

Shell-Vorstandschef Ben van Beurden erklärte zwar schon vor der Verlagerungsentscheidung, das Unternehmen werde vor dem Urteil nicht „weglaufen“; die Umzugsdiskussion finde unabhängig davon statt. Allerdings hatte das Unternehmen auch deutlich gemacht, dass es über seinen Wandel und künftige Investitionen in erneuerbare Energie gern selbst entscheiden würde, und Bezirksrichter nicht unbedingt für geeignete Ersatzmanager hält. In der niederländischen Öffentlichkeit sieht sich Shell wie auch andere Konzerne seit einiger Zeit einer generellen politisch-medialen Kritik ausgesetzt. Auch die Vorsitzende der Gewerkschaft VON-NCW Ingrid Thijssen warnt vor einer generell „negativen Stimmung gegen Unternehmen“, die sich in dem eigentlich traditionell wirtschaftsfreundlichen Land ausbreite.

Mit seinem Schritt aus der EU entgeht Shell auch dem Druck der EU-Kommission, die einzelnen Branchen mittlerweile sehr starre CO2-Reduzierungsziele vorgibt.

Der Konzern mit dem Muschelsymbol gehört jedenfalls zu den großen Gewinnern der aktuellen Energiekrise. Im 3. Quartal 2021 verbuchte er Einnahmen von insgesamt 4,1 Milliarden Dollar – im Vorjahresquartal waren es gerade 950 Millionen Dollar gewesen.

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