Tichys Einblick
ÖPNV

Neun-Euro-Ticket für umme und ewig! 

Die Entfristung des Neun-Euro-Tickets ist eine vernünftige Idee. Ganz umsonst, wie manche fordern, sollte die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs allerdings nicht sein.

IMAGO / Christian Ohde

Das Neun-Euro-Ticket, das zum 1. Juni eingeführt wurde und bis zum 31. August angeboten wird, ist Teil des Paketes, mit dem die Bundesregierung angesichts der stark gestiegenen Energiepreise die Verbraucher entlasten will. Es ist jeweils einen Monat lang gültig und gilt deutschlandweit im Nah- und Regionalverkehr.

Man kann damit für in Summe 27 Euro drei Monate lang quer durch die Republik den Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) stark verbilligt und zum Fixpreis nutzen, so alle Linienbusse, U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen, außerdem Nah- und Regionalverkehrszüge der 2. Klasse. Nicht gültig ist es in Fernverkehrs-Zügen wie ICE oder IC oder auf Fähren zu den schleswig-holsteinischen Nordsee-Inseln.

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Und wie bei allem, was Regierungen ihren Bürgern an Gutem zukommen lassen wollen, gibt es Haare, die Nörglern vom Kopf direkt in die politische Suppe fallen. Diesmal aber nicht von der Opposition, die hat die Entlastungsvorschläge mitgetragen, wenn auch nicht im Einzelnen, wie zum Beispiel die Benzinsubvention, vorgeschlagen. Und es gibt durchaus auch kluge Vorschläge, wie der ÖPNV in diesem Land künftig gestaltet werden sollte.

Die Ökonomen unter den Kritikern der Entlastungsmaßnahmen im Verkehr bemängeln eine gewisse Inkonsistenz in den Zielen: Man könne durch Verbilligung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht die Menschen mit dem Neun-Euro-Ticket aus dem Auto in den ÖPNV locken wollen, und gleichzeitig den Schmerz der automobilen Zielgruppe beim Tanken von teuren umweltschädlichen Kraftstoffen durch subventionierte Benzin- und Dieselpreise wieder lindern. 

Des Weiteren wird vorgebracht, dass durch das Neun-Euro-Ticket voraussichtlich deutlich mehr Menschen den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr nutzten als üblich. Auch wenn die Deutsche Bahn ihr Angebot im Regionalverkehr auf beliebten Strecken ausgebaut hat, rechnet zum Beispiel der Fahrgastverband Pro Bahn mit Engpässen, überfüllten Zügen und Bahnsteigen und schlicht überfordertem Bahnpersonal. Vom Anstieg der Corona-Infektionsgefahr im zu erwartenden Gedränge ganz zu schweigen.

All das ist an Pfingsten auch eingetreten, das erwartete Chaos blieb indessen aus. Auch stellte sich heraus, dass die politisch gewollten Tankrabatte nicht wie erhofft bei den Kunden, sondern – ebenfalls erwartungsgemäß – überwiegend in den Kassen der Mineralölgesellschaften landeten. Der Tankstellen-Interessenverband (TIV) warf den Mineralölkonzernen vor, die aktuelle Situation auszunutzen, um die Gewinne hochzutreiben. Die Mineralölgesellschaften nutzten das Klima im Markt aus, das einen relativ hohen Benzinpreis ermöglicht. 

Der von der Bundesregierung beschlossene Tankrabatt von 35 Cent bei Benzin und 17 Cent bei Diesel ist damit, wie von Ökonomen erwartet, angesichts der Angebotsknappheit an den Brennstoff-Märkten über Preisanhebungen weitgehend schon im Vorfeld „kapitalisiert“ worden. Laut TIV sind weiter Anhebungen zu erwarten. Bald werde der Durchschnittspreis für den Liter Super wieder über zwei Euro liegen „und im August werden wir bei 2,10 oder 2,20 Euro landen“. Mit Ende des Tankrabatts in drei Monaten folge dann „das böse Erwachen“, sagte ein TIV-Sprecher weiter. „Dann stehen wir nach unserer Einschätzung mit Preisen zwischen 2,30 und 2,60 Euro da.“

Die Wirkung der Steuerentlastung auf Sprit schmilzt also derzeit zusehends dahin, bei Diesel wurde inzwischen die Schwelle von zwei Euro überschritten. Politik und Öffentlichkeit diskutieren über Gründe und Gegenmaßnahmen. Eine Anleihe von Bill Clinton im Präsidentschaftswahlkampf 1992 könnte weiterhelfen: „It´s the economy, stupid!“ Oder anders ausgedrückt: Gegen Marktkräfte ist kein Kraut gewachsen, auch kein politisches.

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Vor diesem Hintergrund gewinnen Vorschläge an Gewicht, die auf eine dauerhafte Subventionierung bis hin zu einer völlig kostenlosen Nutzung des ÖPNV in Deutschland hinauslaufen. Aus der Wissenschaft hat dazu Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier (Psychologische Hochschule Berlin, Präsident der deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie) einen erwägenswerten Vorschlag gemacht. 

Für Fastenmeier ist die zeitliche Limitierung der Ticketverbilligung auf drei Monate für die Nutzer nur ein „Strohfeuer“, dass sie nicht langfristig zu einem dauerhaften Umstieg vom Auto in den ÖPNV motivieren könnte. 

Fastenmeier hebt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung dazu hervor, dass

  • der Mensch, anders als in den Modellen der Wirtschaftstheorie unterstellt, eben kein reiner Homo oeconomicus ist, der nur nach wirtschaftlichen Kosten-/Nutzen-Gesichtspunkten, sondern nach vielfältigen persönlichen Präferenzen handelt. „Verhalten lässt sich nicht beeinflussen, nur indem man an der Preisschraube dreht. Und nur, weil das Ticket weniger kostete, wird der öffentliche Nahverkehr ja auch nicht attraktiver.“
  • der ÖPNV nicht überwindbare Nachteile hat. Unabhängig von den gegenwärtigen negativen Begleiterscheinungen der temporären Neun-Euro-Ticket-Überbeanspruchung der Bahn „…hat der ÖPNV weitere grundsätzliche Nachteile … zum Beispiel Witterungsbedingungen. Je schlechter das Wetter, desto weniger gerne ist man mit dem ÖPNV unterwegs. Man hat mit Belästigungen zu rechnen, zum Beispiel ist es voll und eng, man trifft auf unangenehme Gerüche und möglicherweise unangenehme Menschen. Man steht vielleicht auf zugigen (!) Bahnsteigen, hat aber (trotzdem) mit Verspätungen zu rechnen und verpasst einen Anschluss.“ 
  • die Nutzung des ÖPNV stark abhängig ist von der Wohnortlage. „Nur wer in der Nähe einer U-Bahn wohnt, für den ist sie unschlagbar.“ Wer jedoch ungünstig, zum Beispiel auf dem Land oder in Stadtrandlage wohnt, oder kein Olympionike ist, sondern zur Gruppe alternder, evtentuell sogar gehbehinderter silver-ager gehört, für den sind die sich kumulierenden Beförderungshindernisse bis zum jeweiligen Beförderungsziel K.-o.-Kriterien für die Nutzung des ÖPNV.
  • Fazit Fastenmeier: „Das alles schmälert die Attraktivität des ÖPNV deutlich.“  

Im Gegensatz zum ÖPNV hat im Vergleich das Automobil nach Erkenntnissen von Fastenmeier eine Reihe tatsächlicher oder vermeintlicher Vorteile. „Es ist gewohnheitsmäßiges Universalverkehrsmittel, egal zu welchem Zweck. Abgesehen von der Mobilitäts- und Transportfunktion kann ich auch zusätzlich persönliche Motive und Emotionen bedienen … Ich bin ein sportlicher Typ, ich bin ein regeltreuer oder ein defensiver Typ, entsprechend fahre ich auch. Dann ist das Auto individuell und flexibel. Ich habe Privatheit im Auto …“

Was im Klartext so viel heißt wie: Anders als mit dem ÖPNV kann man mit dem Auto fahren, wann ich will, wohin ich will, wie oft ich will, wie ich will, und mit wem ich will! Das kann kein öffentliches Verkehrsmittel bieten, und mag es noch so billig sein.

Unbestritten ist trotz allem, dass eine stärkere Nutzung des ÖPNV gegenüber dem Verbrennerauto verkehrspolitische wie vor allem umweltpolitische Vorteile hat. Vor dem Hintergrund seiner „Strohfeuer-Bewertung“ des Neun-Euro-Tickets wirft Fastenmeier folgende Fragen auf:

  1. Warum neun Euro und nicht gleich umsonst?
  2. Warum kostet der ÖPNV überhaupt etwas? Er wird ja bereits mit Steuergeldern finanziert. Die Politik möchte ihn attraktiver machen, aber gleichzeitig wird er immer teurer. „Eigentlich sollte er eine staatliche Hoheitsaufgabe sein im Sinne von Bereitstellung von Infrastruktur.“

Diese Vorschläge erscheinen insgesamt sehr erwägenswert. Angesichts der Vielzahl an öffentlichen Subventionen in allen öffentlichen Haushalten sämtlicher Gebietskörperschaften, erscheint aus buchhalterischer Sicht eine Finanzierung aus öffentlichen Kassen nicht unmöglich.

In einem Punkt sollte es allerdings eine andere Regelung als von Fastenmeier vorgeschlagen geben: Der ÖPNV muss den Nutzer etwas kosten, die Nutzung darf nicht völlig umsonst sein. Nach der Überzeugung der Volksmeinung, wonach nichts taugt, was auch nichts kostet, sollte die Nutzung des ÖPNV in der vorliegenden Neun-Euro-Ticket-Struktur an eine bestimmte Monats- oder Jahresgebühr gebunden bleiben. Über die Höhe entscheidet die Politik.

Völlig umsonst sollte ein ÖPNV-Ticket nicht abgegeben werden.

Mit einem solchen Schritt würde sich die Bundesregierung international eine Fast-pool-position erarbeiten. Direkt hinter Luxemburg …