Tichys Einblick
Verkehrspolitik am Scheideweg

Verkehrswende: Geht das Auto, geht die Freiheit

Stellen wir uns in Zeiten der Pandemie vor, die Menschen wären alle auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen! Ideen, den motorisierten Individualverkehr zurückzudrängen, sind populär. Aber eine so angelegte Verkehrswende kann nur scheitern, und viel Schaden anrichten.

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Einerseits stellen Transportwege und Transportmittel für Güter oder Personen eine notwendige Grundlage für den Handel in jeder seiner Facetten dar und müssen daher als unverzichtbares Fundament aller Wertschöpfungskettenangesehen werden. Andererseits aber erscheint das Reisen aus der Sicht des eigentlich sesshaften, in einer arbeitsteiligen Gesellschaft jedoch zur Mobilität gezwungenen Individuums häufig nur als notwendiges Übel, das vor allem Aufwendungen verursacht. Mit dem Aufkommen des Ökologismus als neuer spiritueller Strömung in saturierten und orientierungslosen Wohlstandsgesellschaften werden zudem Ressourceneinsatz und Emissionen verstärkt thematisiert. Da hierzulande jede Auseinandersetzung über unser Verkehrswesen und seine Zukunft im Spannungsfeld dieser Perspektiven stattfindet, verwundern emotionale Schärfe und ideologische Aufladung der Debatten nicht.

Dabei ignorieren alle oben genannten Sichtweisen die Kernfunktion der Mobilität als Eckpfeiler persönlicher Freiheit. In fast jedem Zusammenhang ist Bewegung schließlich nicht Selbstzweck, sondern durch andere Erfordernisse veranlasst. Man macht sich auf, um anzukommen, und nicht, um unterwegs zu sein. Denn es gilt, jene Orte zu erreichen, an denen existentielle und weitergehende Bedarfe befriedigt werden können, von der Erwirtschaftung des Lebensunterhaltes über die Versorgung mit notwendigen Waren und Dienstleistungen bis hin zu Freizeitvergnügungen. Die Zeit, die man alltäglichen Wegen zu opfern bereit ist, die Geschwindigkeit, mit der man diese zurücklegen kann, und die temporale und territoriale Flexibilität zur Verfügung stehender Transportmittel legen das Ausmaß des kontinuierlich nutzbaren Lebensraums fest. Mit dessen Vergrößerung erweiterte Wahlmöglichkeiten in allen Aspekten der individuellen Lebensgestaltung einhergehen.

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Die zersplitterte Gesellschaft
Bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein bestimmten die physischen Fähigkeiten des naturgegebenen menschlichen Bewegungsapparates die persönliche Handlungsreichweite. Setzt man für den gesunden Fußgänger eine Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern an und schätzt sein tägliches Mobilitätsbudget auf eine bis zwei Stunden, ergibt sich ein regelmäßig frequentierbares Areal von etwa zwanzig bis achtzig Quadratkilometern. Selbst die größten Städte dehnten sich kaum weiter aus, das mit ihnen ökonomisch und organisatorisch eng verflochtene Umland eingeschlossen. Sänfte oder Droschke, Pferdebus oder schließlich motorisierte Straßenbahn änderten daran nichts, war doch ihr Wirkraum von vornherein auf die durch den Individualverkehr auf zwei Beinen definierten Siedlungskerne begrenzt. Denn nur dort gestattete eine ausreichende Menge potentieller Nutzer ihren wirtschaftlichen Betrieb. Ein Umstand, der die Diskussionen um die mangelhafte ÖPNV-Versorgung ländlicher Räume immer noch prägt.

Ebenfalls scheint sich der Wunsch der Menschen, die Fixpunkte ihres Lebens in einem Radius von dreißig bis sechzig Minuten um ihren Wohnsitz herum anzuordnen, bis heute nicht geändert zu haben. Der Erfolg des Automobils lässt sich daher vor allem auf die mit ihm verknüpfte Chance zurückführen, die autonom in diesen Zeitspannen erschließbare Umgebung deutlich auszudehnen. Dem Fußgänger auf vier Rädern stehen nicht mehr nur einige Dutzend, sondern mehrere tausend Quadratkilometer zur Verfügung. Was die Zahl der Optionen hinsichtlich der Wahl des Wohnortes, des geeigneten Arbeitgebers, der gewünschten Ausbildungsstätte, der erforderlichen medizinischen Versorgung, der Einkaufsmöglichkeiten und anderer regelmäßig zu stillender Ansprüche erheblich erhöht. Von mehr Kunden in einem größeren Einzugsgebiet erreichbar zu sein, befeuert auch den Wettbewerb zwischen den jeweiligen Anbietern und sorgt letztendlich für Innovationen, für immer höherwertige Produkte und Dienstleistungen zu immer geringeren Kosten. Das eigene Fahrzeug erzeugt Wohlstand daher nicht nur als Konsumgut, sondern auch als Werkzeug zur Hebung weiterer ökonomischer Potentiale.

Und so gedeihen auch der moderne ÖPNV und allerlei privat organisierte Transportsysteme, vom Taxi bis zum Car-Sharing, nur innerhalb der Domänen, die erst durch das Automobil zu zusammenhängenden Wirtschaftsräumen wurden. Denn nur innerhalb solcher Gebiete entstehen die attraktiven Ziele, die ausreichend viele Menschen gegebenenfalls auch ohne eigenes Fahrzeug erreichen möchten.
Hinsichtlich des Anspruches, individuelle Beweglichkeit so flexibel wie nur möglich bereitzustellen, also die rund um die Uhr und an jedem Ort gegebene Verfügbarkeit der eigenen Beine mit einer deren Leistungsvermögen erweiternden Maschine darzustellen, haben sich die Personenkraftwagen heutiger Prägung als technisch effektivste Antworten erwiesen. Dies bezieht sich auf alle ihre Eigenschaften, von der Dimensionierung über Leistungsstärke und Transportkapazität bis hin zur Art des Antriebs. Batteriebetriebene Fahrzeuge führen beispielsweise seit mehr als einhundert Jahren lediglich ein Nischendasein. Schon aufgrund hoher Anschaffungskosten, aber vor allem wegen der häufig erzwungenen, deutlich längeren Standzeiten zur Energieaufnahme stellen sie keine dem Verbrenner gleichwertige Alternative dar. Zumal die Anzahl der zu einer flächendeckenden Versorgung erforderlichen Ladesäulen einer- und die Menge der insgesamt zu produzierenden elektrischen Energie andererseits jegliche Vorstellung, Batteriefahrzeuge könnten die Verbrenner umfassend substituieren, als Phantasie ohne jeden Realitätsbezug entlarvt.

Nicht nur die Idee, Elektromobilität administrativ zu erzwingen, sondern auch alle anderen derzeit unter dem Euphemismus „Verkehrswende“ subsummierten Konzepte sind daher primär als Angriffe auf die individuelle Freiheit der Lebensgestaltung anzusehen. Darüber hinaus beraubt, wer den Bürgern ihre Autos wegnehmen will, diese eines wichtigen Instruments für den Aufbau und Erhalt ihres materiellen Wohlstands. Die Vorstellung, mittels eines entsprechend auszubauenden öffentlichen Verkehrssystems aus Bussen und Bahnen, ergänzt durch mikromobile Ansätze vom Fahrrad bis zum elektrischen Tretroller, jemals der gegenwärtigen Verkehrsleistung (gemessen in zurückgelegten Personenkilometern) des Automobils nahekommen zu können, ist schlicht eine Utopie.

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Schon die „autofreie Innenstadt“ wäre der Verödung preisgegeben und hätte einen Rückzug der Pendler in die Speckgürtel zur Folge, in denen sich um entsprechend ausgewichene Einkaufs- und Dienstleistungsangebote neue Zentren bilden würden. Kommunalpolitiker, die eine Zersplitterung und Fragmentierung bestehender Großräume wünschen, sollten daher weiterhin mit Tempo-30-Zonen, der Verringerung des Parkraums, einem Fahrradvorrang und roten Wellen an den Ampelkreuzungen hantieren. Auch andere Quälereien, etwa ein Stopp des Ausbaus von Infrastrukturen, statische Geschwindigkeitsbegrenzungen oderKohlendioxidsteuern werden kaum jemanden dazu bewegen, auf seinen Wagen zu verzichten. Um das Auto loszuwerden, müsste man es verbieten. Das mag der feuchte Traum einiger ökologistischer Dogmatiker sein, im Sinne der Menschen ist es nicht.

Denn diese werden sich nicht dem Diktat kollektiver Verkehre unterwerfen, ihr Leben also nicht an Fahrplänen und der Positionierung von Haltepunkten ausrichten. Sie werden sich schlicht hinsichtlich der Befriedigung ihrer Mobilitätsbedarfe nicht auf Vorgaben Dritter verlassen. Sondern sich auch weiterhin nur in den Räumen entfalten, die sie sich grundsätzlich autark und autonom nach ihren individuellen Vorstellungen selbst erschließen können. Ohne Auto würden sie sich wieder in lokale, kleinräumige Gemeinschaften zurückziehen, ihren Alltag eben auf eine jederzeit fußläufig erreichbare Umgebung konzentrieren.

Wie alle kollektivistischen Zukunftsideen beruht auch die „Verkehrswende“ auf der Ignoranz gegenüber Ursachen und Wirkungen. Ideologen kümmern sich nicht um die Gründe, aus denen die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Alle Kritik am motorisierten Individualverkehr ist ja letztendlich nur durch dessen Erfolg induziert. Es gäbe das Automobil nicht, oder jedenfalls nicht in relevanten Stückzahlen, würde sein Nutzen nicht den tatsächlich angerichteten oder auch nur gefühlten Schaden bei weitem aufwiegen. Dies zu verdrängen, eine „Verkehrswende“ erzwingen zu wollen, führt nur zur Verschwendung von Mitteln und zur Zerstörung von Werten, bis sich alle entsprechenden Versuche schließlich doch als vergeblich erweisen. Nicht Modethemen wie Schadstoffbelastungen oder der Klimaschutz entscheiden über den Verkehr der Zukunft. Sondern der Wunsch der Menschen, sich frei und selbstbestimmt bewegen zu können. Jede Politik, die von sich selbst behauptet, im Interesse der Bürger zu agieren, hat sich zuvorderst an dieser Prämisse zu orientieren und an keiner anderen.