Tichys Einblick
Ein Tempolimit macht Autobahnen nicht sicher

Das Tempolimit und die Grenzwertfalle

Grenzwerte schaffen keine Sicherheit. Sie täuschen sie nur vor. Weil sie lediglich Symptome lindern statt Ursachen zu beheben. Dies gilt auch für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen.

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Durch ein Tempolimit würden deutsche Autobahnen nicht sicher. Natürlich könnte eine vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von beispielsweise 130 Stundenkilometern die Zahl der tödlichen Unfälle senken. Nur gäbe es bei 120 wahrscheinlich noch weniger Opfer zu beklagen. Da jeder Tote einer zu viel ist: Wie wäre es mit 100? Oder gar 80? Eigentlich müssen wir runter auf null. Nur wenn alle Autos stehen, wird niemand mehr dem Verkehr zum Opfer fallen.

Das Tempolimit ist ein Paradebeispiel für die Grenzwertfalle. Alle Argumente, die einen Grenzwert begründen, sprechen auch dafür, ihn immer weiter zu verschärfen. In ihrer offensichtlichen Willkür sind Grenzwerte daher nur Ausdruck zynischer Apathie. Wird doch der Tod bei 130 als hinnehmbarer Schicksalsschlag akzeptiert, der bei 150 aber nicht. Den Anspruch, gar keine Unfalltoten auf den Autobahnen mehr erleben zu müssen, geben die Befürworter eines Tempolimits stillschweigend auf. Weil ihre Forderung den Weg zu diesem Ziel versperrt.

Es gibt nämlich durchaus Umstände, unter denen eine Geschwindigkeitsbegrenzung nicht zu einem Sicherheitsgewinn führt. Und diese zeigen auf, welche Ansätze wirklich taugen.

Die Infrastruktur setzt kein Limit. Es gibt keinen Gegen- und keinen kreuzenden Verkehr. Gruppen wie Fußgänger und Radfahrer sind ebenso ausgeschlossen, wie Kraftfahrzeuge, die nicht mindestens sechzig Stundenkilometer schnell sein können. Breite Fahrspuren, sanfte Kurvenradien, lange Auf- und Abfahrten: Im Prinzip kann man auf der Autobahn so schnell fahren, wie man will.

Beziehungsweise so schnell, wie es das eigene Fahrzeug hergibt. Von den über 46 Millionen derzeit in Deutschland zugelassenen PKW sind 32 Millionen nicht leistungsstark genug, um überhaupt 200 Stundenkilometer zu erreichen. Was so ungefähr 150 PS oder 110 kW erfordert. Mehr als 250 Sachen bringen nur die gut 330.000 Autos (0,7% des Gesamtbestandes) auf die Straße, die mindestens 270 PS oder 200 kW unter der Haube haben. Und das ist der Bereich, in dem man sein Geld statt in einen hochgezüchteten Sportwagen lieber in ein Kleinflugzeug investieren sollte. Schließlich ist letzteres bei gleicher Geschwindigkeit deutlich effizienter. Es existiert also ein effektiv wirksames Tempolimit, das nicht im Gesetzblatt steht. Denn ab 250 km/h macht die Physik, machen Luftwiderstand und notwendige Bodenhaftung Anschaffung und Betrieb geeigneter Fahrzeuge richtig teuer.

Am anderen Ende des Spektrums sind nur knapp eine halbe Million Autos nicht ausreichend motorisiert, um mindestens auf die in Rede stehenden 130 Stundenkilometer beschleunigen zu können. Alle übrigen würden ein solches Limit auf freien, trockenen Strecken bei bester Sicht völlig zu Recht als unnötige Schikane empfinden. Denn wie sicher man unter diesen Bedingungen unterwegs ist, entscheiden nicht Infrastruktur oder andere Verkehrsteilnehmer, sondern die Ausstattung des eigenen Automobils. Das neben dem Antriebsstrang natürlich auch in anderen Komponenten entsprechend ausgelegt sein muss, zu nennen sind unter anderem Reifen, Bremsen und Stoßdämpfer. Könnte die Fahrzeugtechnik nicht auch der wesentliche Sicherheitsfaktor bei hohen Verkehrsdichten und schlechtem Wetter sein?

Sie ist es tatsächlich, wie ein Blick in die Verkehrsunfallstatistik sofort verdeutlicht. Die Zahl der Unfalltoten auf den Autobahnen geht trotz steigender Verkehrsleistung seit Jahrzehnten zurück. Auch im internationalen Vergleich stehen die hiesigen Fernstraßen gut da. Das haben unter anderem Knautschzone, Seitenaufprallschutz, Kopfstütze, Airbag, Gurtstraffer, ABS und ESP ganz ohne Tempolimit bewirkt. Diese positive Entwicklung wird mit fortgeschrittenen Fahrerassistenzsystemen für die Längs- und Querregelung weitergehen.

Ein genereller Grenzwert für die Autobahn ist also kein effektiver Ansatz für mehr Sicherheit, er täuscht sie nur vor. Klüger wäre eine flächendeckende Flexibilisierung der Geschwindigkeitsregelung. Die eben freie Fahrt ermöglicht, wenn die Situation es gestattet. Und ansonsten eine an der Verkehrsdichte und an den äußeren Bedingungen orientierte Vorgabe ausspricht, deren Einhaltung für einen optimalen Verkehrsfluss sorgt. Bald wird ein solches System nicht einmal mehr Schilderbrücken benötigen. Die Empfehlung „mit hundert kommen Sie hier sicher und stressfrei durch“ kann man dann dem Fahrer direkt in das Cockpit einblenden. Das würde vielleicht sogar bei rabiaten, verantwortungslosen Rasern ein Umdenken bewirken.

Allgemeinen Lebensrisiken mit absolut gesetzten Grenzwerten zu begegnen, ist hingegen niemals sinnvoll. Das gilt nicht nur für das Tempolimit. Da sie nur Symptome lindern statt Ursachen zu beheben, manifestiert sich in Grenzwerten lediglich eine lethargische Akzeptanz des scheinbar Unvermeidlichen. Ihre Aushandlung befördert die politische Instrumentalisierung der Wissenschaften. Außerdem schnappt die Grenzwertfalle in jedem Zusammenhang zu. Denn allzu verlockend sind die Optionen für ideologisch motivierte Verhaltensregulierer, mittels immer weitergehender Einschränkungen individuelle Freiheiten zu beschneiden. Wo eine Sturmflut droht, sollte man aber Deiche bauen. Völlig unabhängig vom Kohlendioxid-Gehalt der Atmosphäre. Gegen Krankheiten sollte man Therapien und Immunisierungen entwickeln. Völlig unabhängig von Luftschadstoffen oder dem Zuckergehalt in Nahrungsmitteln. Und gegen tödliche Unfälle auf der Autobahn helfen bessere Fahrzeuge und Infrastrukturen. Bei jeder Geschwindigkeit.