Tichys Einblick
Ausbau und Sanierung des Schienennetzes

Für Bahnkunden wird es bald reichlich unbequem

Mehr Verkehr auf der Schiene, weniger auf der Straße. Die Ampel möchte eine klassische, grün-rote Forderung umsetzen. Daher drohen den Bahnkunden lange Umwege - außerdem fehlt es an Geld für das Projekt.

IMAGO / Frank Sorge

Ambitioniert. Dieses etwas angestaubte Adjektiv verwendet das Verkehrsministerium, um die Bahnpläne der Bundesregierung zu beschreiben. Für die jüngeren Leser: Ambitioniert bedeutet in erster Linie ehrgeizig. Im Abgang schmeckt aber noch ein wenig „Das wird nicht klappen und wir wissen das“ nach. So gesehen hat das Ministerium eine glückliche Hand in der Wortwahl bewiesen.

Im Jahr 2030 werden doppelt so viele Kunden die Bahn nutzen wie bisher. Der Anteil der Schiene am Güterverkehr nimmt um mehr als ein Viertel zu. Doch bevor jetzt ein überzeugter Fan des öffentlichen Nahverkehrs der Bundesregierung frenetisch applaudieren will, sei der gewarnt: So lautet der Plan. Und in Vierjahrespläne lässt sich viel schreiben, wie die Geschichte gezeigt hat. Für Pläne über zwei mal vier Jahre gilt das erst recht.

Derzeit beträgt die Auslastung des deutschen Schienennetzes auf den wichtigen Strecken 125 Prozent, wie die Deutsche Bahn selber erklärt. Für diejenigen, die weniger fit in Mathematik sind: Das Schienennetz reicht heute noch nicht mal annähernd dazu aus, den bestehenden Verkehr zu bewältigen. Nun soll es in insgesamt acht Jahren fitgemacht werden, um einen deutlichen Anstieg hinzubekommen. Als ob das an „ambitionierten“ Aufgaben nicht genügen würde, ist ein großer Teil des Netzes auch noch marode.

Sind denn diese Ziele noch realistisch, will die gemeinsame Fraktion von CDU und CSU vor diesem Hintergrund in einer Anfrage wissen. In seiner Antwort erweist sich das Verkehrsministerium so recht als die Heimat der Politik-Poesie: „Es ist aus Sicht der Bundesregierung zwingend notwendig, die Verkehrswende mit politisch ambitionierten Zielen anzugehen.“ Das heißt übersetzt: Würde das von der FDP geführte Ministerium heute schon zugeben, dass die Ziele nicht zu erreichen sind, würde das für noch mehr Ärger mit dem Koalitionspartner Grüne sorgen.

42 Streckenabschnitte müssen aktuell generalsaniert werden, wie das Ministerium auf Anfrage der Union mitteilt. Darunter befinden sich Strecken, die für den Personen- und den Güterverkehr buchstäblich zentral sind:
– Frankfurt am Main/Mannheim
– Hamburg/Berlin
– Emmerich/Oberhausen
– Hamburg/Hannover
– Stendal/Magdeburg
– Erfurt/Bebra
– Koblenz/Mainz
– Koblenz/Wiesbaden
– Köln/Dortmund/Hamm
– Stuttgart/Ulm
– München/Rosenheim
– Rosenheim/Salzburg

Die kleine Auswahl zeigt: Die Republik ist flächendeckend betroffen. Wer als Bahngast Strecken von weniger als 200 Kilometern fährt, wird in den kommenden Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit Umwege fahren müssen. Wer Strecken mit über 500 Kilometern Länge und mehr wählt, der wird voraussichtlich in mehrere Umwege geraten.

Wie sich das in der Praxis auswirkt, zeigt ein Blick auf die Verbindung zwischen den beiden größten Städten Deutschlands: Derzeit dauert die Bahnreise von Berlin nach Hamburg im Personenverkehr rund zwei Stunden. Beginnt 2025 die Sanierung, soll die Strecke für sechs Monate gesperrt werden. Zwischen Juni und Dezember kommen dann Umwege auf die Fahrgäste zu, für die mit einer zusätzlichen Reisezeit von 45 bis 105 Minuten zu rechnen ist. Also fast mit einer Verdopplung der Fahrtzeit. Vorausgesetzt alles geht gut und es fällt kein Personal kurzfristig aus, kein Baum in die Schienen, auch bleibt keine Lok auf halber Strecke stehen, werden keine Kupferkabel an der Ersatzstrecke geklaut oder treten keine sonstigen technischen Defekte ein.

Immerhin: Es gibt Ersatzstrecken. Aber eben das verzögert den Ausbau und die Sanierung der Haupttrassen. Denn bevor diese beginnen sollen, will Volker Wissings (FDP) Verkehrsministerium erst die Ausweichstrecken ertüchtigen. Das verzögert zum einen den gesamten Prozess und kostet zum anderen Geld. Deshalb signalisiert Wissing auch seinem Parteifreund und Finanzminister, Christian Lindner (FDP), dass er mit dem ihm zugedachten Etat nicht auskommt: Das Fahrgastaufkommen verdoppeln. Den Anteil der Schiene am Güterverkehr von 19 auf 25 Prozent steigern. Und zudem nicht mehr fahrtüchtige Strecken in Stand setzen. Selbst die schwäbischste Hausfrau wird Wissing zugestehen, dass angesichts dieses Zwei-mal-vier-Jahresplanes die Forderung nach mehr Geld nicht gerade „ambitioniert“ ist. Zumal das 49-Euro-Ticket scheinbar zu wenige Neukunden mit sich bringt, um dem System neues Geld zuzuführen – eher entzieht es dem System Geld.

Als Endziel haben sich die Ampelkoalition und ihr Verkehrsministerium den „Deutschlandtakt“ gesetzt. Dessen Grundidee lautet: Wer in einer deutschen Großstadt in die Bahn steigt, erhält in engem Takt eine gute Verbindung zu jeder anderen Großstadt. Die Anschlüsse sind dabei so eingerichtet, dass Umsteigen zu möglichst wenig Zeitverlust führt. Klingt gut, doch auch hier sei vor zu schnellem, frenetischem Applaus gewarnt. Dieses Endziel will die Ampel erst in rund 50 Jahren erreicht haben.

Klingt nach Scheitern der ehrgeizigen Pläne. Klingt nach einer wenig ambitionierten, aber doch realistischen Einschätzung der Möglichkeiten von Bahn und Regierung. Doch das Verkehrsministerium wird nicht müde, in seiner Antwort an die Union zu betonen, dass die Umsetzung „in Etappen“ „wie geplant“ durchgeführt. In ihren Mühen, die beiden Wortpaare nicht getrennt voneinander vorkommen zu lassen, sind die Autoren des Verkehrsministeriums fast so linientreu wie einst die Autoren des alten Neuen Deutschlands. Soll keiner sagen, im Hause Wissing gebe es keine Ambitionen mehr.

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