Tichys Einblick
Kaufleute bestimmen

Absturz Boeing

Wie die Seattle Times jetzt aufdeckte, habe die FAA immer mehr Prüfpunkte an Boeing delegiert. Ein ehemaliger FAA-Ingenieur berichtete der Zeitung, dass bei der Zulassung ein enormer Zeitdruck herrschte: »Eine vollständige und gründliche Gegenprüfung der Unterlagen fand nicht statt.«

Cameron Spencer/Getty Images

Die letzten Minuten müssen fürchterlich gewesen sein. Verzweifelt versuchte der Pilot, die Maschine hochzuziehen. Er zog am Steuerhorn, doch die Nase des Flugzeuges zeigte nach unten. Er zog weiter – doch es gelang ihm nicht, das Flugzeug nach oben zu ziehen. Und das in der kritischen Phase nach dem Abheben, in der sich das Flugzeug noch in geringer Höhe befindet und keine große Geschwindigkeit aufgebaut hat.

Berichte sprechen von Panik in der Stimme des erfahrenen Piloten, der eine Notlandung angefordert hatte. Aber dazu kam es nicht mehr. Die Boeing 737 MAX mit 157 Menschen an Bord rammte mit rund 700 km/h in den Boden. Die Bilder des Kraters lassen die ungeheuren Kräfte erahnen, die hier gewirkt haben. Größere Teile waren an der Absturzstelle nicht mehr zu finden, Flugzeug und Insassen wurde gleichsam atomisiert.

Das Alarmierende: Im Oktober 2018 waren bei einem Absturz desselben Typs in Indonesien 189 Personen gestorben. Zwei Abstürze innerhalb kurzer Zeit, die nach ähnlichen Mustern verliefen, gab es seit den Starfighter-Abstürzen in den 70er Jahren nicht. Fast 400 Tote versetzen vor allem die Luftfahrtbranche in Aufregung. Für Hersteller Boeing ein komplettes Desaster, dessen Kosten noch nicht abschätzbar sind. Die Aktie stürzte erst einmal in den Keller. Alle Boeing 737 MAX sind gegroundet, sie dürfen bis auf weiteres nicht mehr fliegen. Unglücke, die an die Substanz von Boeing gehen können.

Jetzt kommt heraus, dass es sich offenbar um ein größeres Systemversagen handelt. Es bereiteten offenkundig nicht nur ein einzelner Sensor und ein paar Zeilen Softwarecode Probleme. Die in Boeing-Kreisen sehr gut vernetzte Zeitung Seattle Times berichtet ausführlich, wie wesentliche Sicherheitsbestimmungen verletzt wurden.

Boeing habe bei der Bedeutung des Korrektursystems MCAS untertrieben. Das Höhenleitwerk sollte nach Boeing Angaben lediglich um geringe 0.6 Grad geschwenkt werden, tatsächlich aber drehte es sich mit 2.5 Grad wesentlich stärker als geplant. Das deutet darauf hin, dass viel größere Korrekturen notwendig waren, um die offenbar erheblichen größeren aerodynamischen Probleme zu lösen. Damit erklärt sich auch, warum Boeing eine lange Zeit für eine Korrektur beansprucht. Ein geringfügiger Software-Update ginge schneller.

Das Risiko bei einem Ausfall des Systems stuften Boeing Experten intern als eine Stufe unter »katastrophal« ein. Zudem soll das Überziehwarnsystem, das den Piloten vor einem Strömungsabriss warnt, fehlerhaft sein. Boeing stand 2015 erheblich unter Druck, mit Konkurrent Airbus gleichzuziehen und ein Flugzeug für mehr Passagiere und geringerem Treibstoffverbrauch anzubieten und drängte auf schnelle Zulassung.

Das geschieht bei einem Flugzeug, das tausendfach verkauft wurde. Die grundlegende Konstruktion der 737 ist jedoch alt. Sie wurde ab Februar 1965 entwickelt und seitdem nur von Modell zu Modell verändert, meist vergrößert, damit mehr Passagiere hineinpassen. Das spart gegenüber aufwendigen Neukonstruktion und ihren teuren Zulassungen deutlich Kosten. Ein deutlicher Kostenvorteil gegenüber Konkurrent Airbus, der komplett neue Konstruktionen auf den Markt brachte. Doch stößt solch konstruktives Stückwerk immer deutlicher an Grenzen. Nicht Passendes muss irgendwie passend gemacht werden – mit vielen negativen Folgen.

So wurden die Triebwerke immer leistungsfähiger, die beiden neuen CFM LEAP-1B haben mit 1,73 Meter einen größeren Durchmesser als Vorgängermodelle mit 1,55 Meter. Sie können mehr Luft ansaugen, haben einen viel höheren Nebenstromanteil und verbrennen den Treibstoff besser, sind sparsamer. LEAP steht übrigens für Leading Edge Aviation Propulsion, der technologieführende Luftfahrtantrieb. Der ist das Produkt eines Joints Ventures des bisherigen Turbinenherstellers General Electric und der französischen Safran Aircraft Engines, der alten französischen Snecma.

Allerdings wird dieser Vorteil mit einem gravierenden Nachteil erkauft: Die Motoren passen nicht mehr unter die Tragflächen. Das aus den sechziger Jahren stammende Fahrwerk ist tief und die Flächen befinden sich relativ dicht über dem Boden. Deswegen erkennt man Boeing 737 Maschinen an den unten abgeflachten Triebwerkseinlässen. Die sollen verhindern, dass Steine angesaugt werden.

Die neuen großen CFM 1B passten nicht mehr unter die Flächen. Sie mussten nach vorn rücken und sitzen auffällig vor den Tragflächen. Das hat vor allem in Grenzbereichen erhebliche aerodynamische Konsequenzen und verändert die Hebelwirkung der Triebwerke. Um die Gefahr eines Strömungsabrisses zu verhindern, entwickelten die Ingenieure für die 737 MAX ein Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS), das die »Neigungseigenschaften bei erhöhten Anstellwinkeln verbessern« soll.

Als Ausgleich für das konstruktive Flickwerk hat Boeing also eine Art Kontrollsystem eingebaut, das mit seiner Software automatisch die Trimmung des Höhenleitwerkes nach unten stellt, wenn das System einen zu hohen Anstellwinkel errechnet. Das System wird automatisch aktiviert, nachdem die Klappen eingefahren wurden. Es ist offenbar nicht genügend redundant ausgelegt, in der Luftfahrt ein absolutes Muss. Wenn ein Sensor falsche Werte liefert, wird es kritisch.

Bei dem Absturz der Lion Air Maschine am 28. Oktober vergangenen Jahres hat das System offenbar so stark »Nase nach unten« Befehle gegeben, dass die Piloten nicht dagegen ankamen und verzweifelt dagegen ankämpften. Erfolglos. Warum genau, das müssen die Untersuchungen klären. Offenbar gelang es ihnen nicht, das MCAS abzuschalten – oder sie kamen nicht drauf. Die Phase nach dem Start verlangt volle Konzentration, viel Zeit bleibt nicht, wenn beim Verhalten des Flugzeuges in relativ geringer Flughöhe gravierende Fehler geschehen, die vor allem Piloten nicht erwarten.

Dasselbe Flugzeug zeigte bereits bei verschiedenen vorausgegangenen Flügen Probleme mit Geschwindigkeits- und Höhenanzeige, wie der vorläufige Unfallbericht belegt. »Das Steuerhorn begann zu schütteln, ein Geschwindigkeitsalarm ertönte und das Flugzeug senkte die Nase nach unten.«

Bei vorausgegangenen Flügen gelang es den Piloten jedoch, rechtzeitig MCAS und auch den Autopiloten auszuschalten. Sie flogen mit manueller Steuerung weiter. Die Spezialisten prüften das Flugzeug und tauschten Sensoren aus, aber entließen es wieder als flugtüchtig.

Boeing scheint in Information und Schulung von Betreiber und Piloten Fehler gemacht zu haben. Ein Pilot fragt: »Ich muss mich fragen: Was weiß ich sonst noch nicht? Das Flughandbuch ist unzureichend und fast sträflich ungenügend. Alle Fluggesellschaften, die die MAX betreiben, müssen gegenüber Boeing darauf bestehen, dass alle Systeme im Manual beschrieben werden.«

Piloten stellen fest: »Jetzt wissen wir, dass die eingesetzten Systeme fehleranfällig sind – auch wenn die Piloten sich nicht sicher sind, was diese Systeme bewirken, welche Redundanzen es gibt und welche Ausfallmodi.«

Ethiopian Airlines wollte nicht, dass der Flightrecorder in den USA untersucht wird, sondern bat französische Experten. Das Vertrauen scheint nicht allzu groß zu sein.
Damit stellt sich die Frage der Zulassung und der FAA, der amerikanischen Flugaufsichtsbehörde. Die überwacht die gesamte zivile Luftfahrt in den USA und verfügt dazu über ein Budget von immerhin 16 Milliarden Dollar.

Die FAA wollte noch die 737 MAX fliegen lassen, als viele andere Länder bereits Überflüge verboten hatten. China hat bekanntlich als eines der ersten Länder ein Flugverbot ausgesprochen, was zunächst als Fortsetzung des Handelskrieges gedeutet wurde. Es wirft ein bezeichnendes Licht darauf, warum die FAA solche mangelhafte Technik zugelassen hat. Sie hätten niemals die Flugtüchtigkeit bestätigen dürfen.

Wie die Seattle Times jetzt aufdeckte, habe die FAA immer mehr Prüfpunkte an Boeing delegiert. Ein ehemaliger FAA-Ingenieur berichtete der Zeitung, dass bei der Zulassung ein enormer Zeitdruck herrschte: »Eine vollständige und gründliche Gegenprüfung der Unterlagen fand nicht statt.«

Die Sicherheitsanalyse über das neue MCAS-System, die Boeing an die FAA schickte, hatte entscheidende Mängel. Fachleute innerhalb der FAA wunderten sich, wieviel Zertifikate sich Boeing selbst ausstellen durfte. »Es ist unangebracht, dass Boeing-Mitarbeiter so viel Autorität über Sicherheitsanalysen für Boeing Jets haben.«
Wie der Luftfahrtexperte der Seattle Times, Dominic Gates, weiter berichtet, erfuhr er diese Hintergründe vertraulich von Boeing-Ingenieuren und informierte sowohl Boeing als auch die FAA und bat um Antworten. Das war vor 11 Tagen – vor dem zweiten Absturz einer 737 MAX am vergangenen Sonntag.

Einen bemerkenswerten Sachverhalt offenbart der Fall weiterhin: US-Präsident Donald Trump ordnete am Mittwoch an, dass auch in den USA sämtliche 737 MAX am Boden zu bleiben haben. Er telefonierte zuvor mit dem Boeing-Vorstandsvorsitzenden Dennis Muilenburg.

Trump weiß offenbar um die Probleme. Er, der mit einer Boeing 757 selbst ein Flugzeug betreibt, wollte seinen Chefpiloten John Dunkin zum Chef der FAA machen, möglicherweise, um dort aufzuräumen, scheiterte aber an Widerstand. Ein Regierungsmitarbeiter verteidigte Dunkin als erfahrenen und kompetenten Piloten. Trump beklagte auf Twitter die steigende Komplexität der Technik in Flugzeugen. Es würden keine Piloten mehr benötigt, sondern MIT-Computerwissenschaftler. Er wolle nicht Albert Einstein als Pilot, sondern Profis, die schnell und einfach die Kontrolle über ein Flugzeug übernehmen könnten.

Wieviel haben noch Ingenieure und Techniker bei Konstruktionen zu sagen? Boeing-Konstrukteure haben übrigens anonym im vergangenen Jahr auf MCAS-Probleme hingewiesen. Doch vergebens.

Es ist eben aus kaufmännischer Sicht günstiger, mit Software murksbehaftete Konstruktionen in Gang zu bringen als komplette neue Hardware-Konstruktionen. Daimler musste das seinerzeit bei der A-Klasse schmerzhaft erfahren, die beim legendären Elchtest umkippte, weil der Schwerpunkt zu hoch lag und das Fahrwerk nicht ausgelegt war. Erst mit einem Software-Paket wurde das Auto fahrtüchtig.
Die kaufmännische Abteilung fragt, was noch im gerade erlaubten Bereich liegt und lässt mit Hilfe von willigen Mitarbeitern in Produktion und Technik die billigste Lösung bauen.

Was lässt in diesem Zusammenhang die jüngste Lufthansa-Entscheidung erwarten? In dieser Woche hat der Aufsichtsrat der Lufthansa beschlossen, 40 Langstreckenflugzeuge Boeing 787-9 und Airbus A350-900 zu kaufen. Die Strategie ist klar: Zweistrahlige Jets sollen vierstrahlige ersetzen. Diese neuen Maschinen benötigen nur noch 2,9 Liter Kerosin pro Passagier und 100 Kilometer Flugstrecke. Die Betriebskosten sollen um 20 Prozent sinken. Sechs der 14 vorhandenen Riesenflieger A 380 sollen abgegeben werden.

Der wirtschaftliche Vorteil wird vor allem damit erkauft, dass nur noch zwei Triebwerke das Flugzeug antreiben. Das bedeutet halbe Treibstoffkosten, aber auch geringere Bau- und Wartungskosten.

Klar, moderne Motoren sind ein Wunderwerk an Zuverlässigkeit. Aber sie können dennoch ausfallen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo auf der Welt irgendeines dieser HighTech-Wunder seinen Dienst aufgibt. Normalerweise kein Problem – über Land mit ausreichend Landeplätzen in der Nähe. Jede Verkehrsmaschine kann auch noch mit einem Triebwerk weiterfliegen und sicher landen. Das üben Piloten in Simulatortrainings.

Für die Kaufleute in Luftfahrtunternehmen mit jedem Stück längerer Laufzeit eines Triebwerkes ein Grund mehr, auf die kostensparende Lösung zu drängen und nur noch auf zweistrahlige Maschinen zu setzen. Doch nicht mehr ganz so unproblematisch wird ein Fehler in einem Triebwerk zum Beispiel auf den Atlantik- und den langen Pazifikrouten. Der Ausfall eines Triebwerkes bei einer zweistrahligen Maschine sorgt bei jedem Piloten für deutlich erhöhten Blutdruck. Airbus A 380 erwies sich als sehr sicheres Flugzeug mit dem Vorteil von vier Triebwerken.

Haben jetzt allein die Kaufleute bei Lufthansa das Sagen? Lange Jahre geschah kein größeres Unglück, die Luftfahrt konnte ihren Ruf als eines der sichersten Verkehrsmittel festigen und sich in Sicherheit wiegen. Erst die beiden jüngsten Abstürze mit fast 400 Toten werden die Bilanz für 2019 verhageln. Ob sie die derzeitige Vorherrschaft der im Augenblick tonangebenden Kaufleute in den Luftfahrtunternehmen brechen werden?