Tichys Einblick
Lieferketten-Probleme

Kunststoffindustrie-Insider: “Fast jeder meiner Kunden bettelt um Rohstoffe”

Der erzeugenden Kunststoffindustrie gehen die Rohstoffe aus, berichtet ein Brancheninsider und warnt: Innerhalb von vier bis acht Wochen könnte die Kunststoffproduktion ganz zum Erliegen kommen. Von Elias Huber

PET-Flaschen Rohlinge zur Herstellung von Plastikflaschen

IMAGO / imagebroker

Laut einem Brancheninsider spitzt sich die Rohstoffknappheit in der Kunststoffindustrie zu. Der Mann ist Vertriebschef bei einem Mittelständler, der sogenannte Extruder baut. Mit diesen Anlagen produzieren Kunststoffunternehmen “Compounds” – also Kunststoff-Mischungen – aus denen in der Wertschöpfungskette nachgelagerte Unternehmen etwa Auto-Kunststoffteile herstellen.

Der Mann ist im Gespräch mit Tichys Einblick sehr besorgt. “Innerhalb der nächsten vier bis acht Wochen wird sich zeigen, ob die Kunststoffproduktion ganz zum Erliegen kommt. Bis dahin sind eventuell die letzten Lagerbestände von Rohstoffen wie Polyamid oder Polycarbonat aufgebraucht”, sagt er und fügt hinzu: “Solche Lieferengpässe habe ich in 25 Jahren nicht erlebt. Fast jeder meiner Kunden bettelt um Rohstoffe. Wir warten alle sehnsüchtig auf einen Schub in der Lieferkette.” Möglich sei aber auch, dass sich die Rohstoffknappheit zügig entspanne. Das sei derzeit schwer absehbar, sagt der Mann.

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Warum die Kunststoffhersteller keine Rohstoffe bekommen, das sei selbst in Branchenkreisen unklar, sagt der Mann. Eine Rolle spiele sicher der heftige Wintereinbruch im Süden der USA, wo viele Hersteller von petrochemischen Vorprodukten und Basispolymeren ansässig seien. Außerdem habe der Lockdown Unruhe in die Lieferketten gebracht. “Im vergangenen Jahr brach die Nachfrage ein, sodass Großunternehmen Reaktoren abgestellt haben. Nun zieht die Nachfrage massiv an, auch wegen der brummenden Wirtschaft in China, doch das Angebot ist knapp. Dadurch explodieren die Preise von Basiskunststoffen, petrochemischen Vorprodukten und Spezialadditiven”, sagt der Mann.

Ein weiteres Problem: Die Reaktoren – die unter anderem Rohöl-Bestandteile weiter aufspalten und anschließend chemisch und thermisch bearbeiten, um daraus Kunststoffe und Kunststoff-Vorprodukte zu machen – bräuchten längere Zeit, um nach einem Shutdown wieder zu produzieren. “Im schlimmsten Fall dauert das Wochen”, sagt der Mann.

Außerdem sei im vergangenen Jahr die Zahl der “force majeure” nach oben gegangen – also Betriebsunfälle höherer Gewalt wie Naturkatastrophen, auf die Unternehmen keinen Einfluss haben. In der Branche sei allseits bekannt, dass die Betreiber der Reaktoren mit Absicht die Produktion herunterfahren würden und force-majeure-Fälle meldeten, um das Angebot zu verknappen und die Preise nach oben zu treiben. Zwar sei das illegal aus kartellrechtlicher Sicht, passiere aber trotzdem häufig. Der Mann hält es deswegen nicht für ausgeschlossen, dass einzelne Unternehmen die Rohstoffknappheit mit Absicht verschärfen.

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Ob das havarierte Containerschiff im Suez-Kanal die Situation verschlimmere, konnte der Vertriebschef nicht mit Gewissheit sagen – es sei anzunehmen. Bauchschmerzen bereiten ihm die steigenden Steuern und Abgaben, die die Profitabilität der Branchenunternehmen drücken würden. “Der Green Deal macht mir große Sorgen, weil solche Politik den Mittelstand zerstören könnte”, sagt der Mann. Müsse etwa die Kunststoffindustrie die EEG-Umlage zahlen, dann könne man den Laden dichtmachen. Trotzdem sei die Innovationskraft der Branche groß. Sein Unternehmen produziere etwa Sonderanlagen, die nur ganz wenige Unternehmen aus Japan und Deutschland bauen könnten.

Der Verband der Kunststofferzeuger, PlasticsEurope Deutschland, sah die Lage weniger ernst als der Brancheninsider. Laut einem Sprecher sei die Situation um die knappen Rohstoffe “angespannt aber nicht dramatisch”. Mittelfristig rechnete der Sprecher mit einer Entspannung.

In einer Blitzumfrage des Verbands IK Industrievereinigung Kunststoffverpackungen berichteten 80 Prozent der befragten Unternehmen, ihre Produktions- und Lieferfähigkeit sei wegen fehlender Rohstoffe eingeschränkt. Ebenfalls 80 Prozent erwarteten eine Fortsetzung oder Verschärfung der Entwicklung in den kommenden Wochen. Wiederum 80 Prozent der Unternehmen gaben an, derzeit von einem oder mehreren force-majeure-Fällen betroffen zu sein. Laut der Mitteilung steigt derzeit die Zahl der force-majeure-Fälle in Deutschland und Europa beschleunigt an.

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“Die Kunststoffverpackungshersteller sind alarmiert und in großer Sorge”, sagte denn auch der IK-Chef Martin Engelmann und fuhr fort: “Die Umfrageergebnisse zeigen eine deutliche Verschlechterung der Rohstoffversorgung gegenüber dem Jahresbeginn. Und im Moment deutet nichts auf ein Ende dieser Versorgungsengpässe hin.” Insgesamt nahmen 75 Hersteller von Kunststoffverpackungen an der Umfrage vom 2. März teil. Laut dem Brancheninsider geht die Hälfte aller Kunststoffe in die Verpackungsindustrie. 12 bis 15 Prozent würden zu den Autobauern fließen.

Eine Mitteilung des IK-Verbands vom vorvergangenen Freitag warnt weiterhin vor Rohstoffknappheit. Die Rohstofflieferkette sei “derzeit massiv gestört”, heißt es. Nicht nur die Preise explodierten, sondern es fehlten auch die benötigten Mengen. Etwa seien die Preise für Standard-Kunststoffe im ersten Quartal durchweg gestiegen. Der für Verpackungen wichtige Rohstoff Polyethylen habe sich bis Mitte März um mehr als 35 Prozent verteuert. Bei technischen Kunststoffen, die etwa für die Auto- und Elektroindustrie wichtig seien, seien ähnliche Preissprünge zu beobachten. Dagegen fielen die Preisanstiege bei den petrochemischen Vorprodukten geringer aus.
Grund seien unter anderem die rasant ansteigenden Frachtpreise, die sich allerdings zuletzt entspannten, steht in der Mitteilung. Seit Ende 2020 hätten sich die Containerpreise auf der Strecke Asien-Europa verfünffacht, was Kunststoffe im Schnitt um 200 Euro pro Tonne verteuert habe. Recyclingkunststoffe könnten die Rohstoffknappheit nur zum Teil beheben. Den breiten Einsatz verhinderten oftmals gesetzliche Sicherheitsvorschriften, technische Hürden und hohe Qualitätsanforderungen. Laut der Mitteilung rechnen Experten erst zum Herbst mit einer Entspannung.

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