Tichys Einblick
Steuerzahler stopft Lücken

Die Krankenkassen auf dem Weg ins tiefe Defizit

Die Krankenkassen warnen vor Defiziten in einem zweistelligen Milliardenbereich. Derzeit sei die Finanzlage der Kassen nur deshalb stabil, weil die Bundesregierung ihren Steuerzuschuss für 2022 einmalig um 14 auf 28 Milliarden Euro verdoppelt habe.

imago Images/Tagesspiegel

Das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist deutlich angewachsen. Im ersten Halbjahr 2021 erhöhte es sich auf 1,9 Milliarden Euro und dies unter der Berücksichtigung, dass die Krankenkassen etwa zwei Milliarden Euro ihrer Finanzreserven an den Gesundheitsfonds abführen mussten. So betrug das Mi­nus der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) rund 1,6 Milliarden Euro, das der Ersatzkassen 14 Millio­nen Euro. Die Innungskrankenkassen verzeichneten ein Defizit von 25 Millionen Euro, die Betriebs­kran­kenkassen 235 Millionen Euro und die Knappschaft verbuchte ein Defizit von 18 Millionen Euro, wie das Ärzteblatt berichtete. Nicht sieben, sondern bis zu 15 Milliarden Euro seien nötig, um das Minus der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2022 auszugleichen. Damit drohen den Versicherten höhere Zusatzbeiträge, selbst wenn der Bund einen Teil davon ausgleicht.

Anfang Januar 2022 nun warnen die gesetzlichen Krankenkassen vor Defiziten in einem zweistelligen Milliardenbereich. Derzeit sei die Finanzlage der Kassen nur deshalb stabil, weil die Bundesregierung ihren Steuerzuschuss für 2022 einmalig um 14 auf 28 Milliarden Euro verdoppelt habe. Für 2023 sei die Finanzierung aber bisher offen. „Wird nichts unternommen, müssen die Beiträge Anfang 2023 im Durchschnitt um fast einen Prozentpunkt steigen“, sagte die Chefin des Spitzenverbandes der Kassen, Doris Pfeiffer gegenüber dem RND. Konkret fordert Pfeiffer, dass der Bund den Kassen ab 2023 in vollem Umfang kostendeckende Beiträge für Hartz-IV-Empfänger zahlt. Es sei „hochproblematisch“, dass im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP nicht von einem vollständigen Ausgleich die Rede sei, sondern nur von höheren Beiträgen. 

Die Krankenhäuser werden ebenfalls noch ihre Finanzbedarfe präsentieren. Deutschland hat bei der Krankenkassen-Finanzierung eines der kompliziertesten Systeme der Welt. Den Kliniken in Deutschland geht es wirtschaftlich so schlecht wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Grund sind die wegen der Corona-Pandemie reduzierten Behandlungen. 

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Auch bei der Pflegeversicherung erwarten die gesetzlichen Kassen einen deutlichen Anstieg der Beiträge. „Wenn nichts passieren sollte, dann wird bereits im ersten Halbjahr eine Beitragserhöhung von 0,3 Prozentpunkten notwendig sein, um die Finanzierung sicherzustellen“, erklärte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Gernot Kiefer, gegenüber der Rheinischen Post.

Der Chef der Betriebskrankenkassen, Franz Knieps, sagt in einem Welt-Gespräch auf die Frage, ob es 2022 Beitragserhöhungen geben wird: „Im Jahr 2022 nur bei einer begrenzten Zahl von Kassen, da reicht der Bundeszuschuss aus. Aber danach wird die Ampel-Regierung ihren Koalitionsvertrag umsetzen müssen. Dort steht, dass man sich für eine Verstetigung des Bundeszuschusses einsetzen werde. Das können 14 Milliarden Euro sein oder 28 Milliarden wie zuletzt. Welche Finanzierungslücke sich damit auch immer eröffnet – sie wird über höhere Krankenkassenbeiträge beglichen werden müssen.“

Eine Verstetigung der Bundeszuschüsse gibt es allerdings bereits seit geraumer Zeit – bei der Rentenversicherung: Es sind rund 100 Milliarden Euro pro Jahr, mit denen der Bundeshaushalt, also der Steuerzahler, gut 30 Prozent der Ausgaben für die Renten deckt. 

Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeichnet eine noch düstere Prognose. Bis auf 50 Milliarden Euro könnte bis 2040 das Defizit der Krankenkassen steigen. Die gegenwärtigen Finanzreserven der Kassen und des Gesundheitsfonds „sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch bei weiterhin vergleichsweise günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen die Nachhaltigkeit der Finanzierung der GKV bereits in wenigen Jahren gefährdet sein dürfte“, schreiben die Autoren der Studie „Zukünftige Entwicklung der GKV-Finanzierung“. Schon ab Mitte der 2020er Jahre würde bei trendmäßiger Fortschreibung aller relevanten Einflussfaktoren und ohne Gegensteuern der Politik eine Lücke von knapp zwei Milliarden Euro entstehen. 

Zwar wurde die Studie bereits vor gut einem Jahr veröffentlicht, sie ist dennoch nicht obsolet, im Gegenteil, wenn man die Kostenentwicklungen im Pandemiegeschehen betrachtet – und nicht nur hier klafft die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen der GKV. „Um die Ausgabensteigerungen abzufedern“, so heißt es, „müsste der allgemeine Beitragssatz bis 2040 von derzeit 14,6 Prozent schrittweise auf 16,9 Prozent des Bruttoeinkommens angehoben werden. Dazu kommen dann noch einmal die Zusatzbeiträge, die die Krankenkassen erheben. Sie liegen im Durchschnitt bei derzeit 0,9 Prozent. Wollte man den Beitragssatz dauerhaft auf 15 Prozent stabil halten, müsste der Zuschuss aus dem Bundeshaushalt von derzeit 14,5 Milliarden Euro pro Jahr bis 2040 auf 70 Milliarden Euro ansteigen.“

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