Tichys Einblick
Der Marktausblick

Umarmungsstrategie, Naivität oder Einknicken?

Der Siegeszug der ETF-Branche geht unvermindert weiter. Das in börsennotierten Indexfonds verwaltete Vermögen stieg in den vergangenen zwölf Monaten weltweit auf knapp elf Billionen US-Dollar.

Odd Andersen/AFP/Getty Images

Ist das nun eine ganz raffinierte Strategie oder ist Siemens-Chef Kaeser von allen guten Geistern verlassen? Sollten seine Worte Ernst gemeint seien, will das Unternehmen die Frage, ob man gegenüber Kunden vertragstreu ist, künftig von Demonstranten entscheiden lassen. Siemens wolle angesichts von Protesten bis Montag darüber befinden, ob der Auftrag zur Lieferung der Zugsignalanlage für ein Kohlebergwerk in Australien ausgeführt wird oder nicht, sagte Kaeser am Freitag in Berlin nach einem Gespräch mit der Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer. Das vom indischen Industriekonzern Adani geplante Kohlebergwerk in Australien soll eines der größten der Welt werden.

Mit der Plattitüde, es gebe unterschiedliche Interessen von Aktionären, Kunden und auch der Gesellschaft, begründete Kaeser sein Vorgehen: Siemens müsse früher erkennen, wenn sich der Konzern an kritischen Projekten beteilige. Als ob das etwas Neues wäre. Schon immer gab es unterschiedliche Interessen, aber die Vorstände von Industrieunternehmen, die laut Aktiengesetz das Ihnen anvertraute Unternehmen mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns zu führen haben, wären nicht im Traum auf die Idee gekommen, sich ihre Geschäftspolitik von Schülern diktieren zu lassen.

Arg strapaziert haben dürfte Kaeser die Nerven seiner Aktionäre ganz besonders mit dem Angebot an Neubauer, in den Aufsichtsrat der Siemens Energy einzuziehen: „Ich möchte, dass die Jugend sich aktiv beteiligen kann.“ Ist Kaeser naiv oder betreibt er eine so raffinierte Umarmungsstrategie, dass niemand anders sie versteht. Dass nicht sachverständige junge Leute in Aufsichtsräte einziehen, „um sich aktiv zu beteiligen“, ist vom Gesetzgeber jedenfalls nicht vorgesehen.

Neubauer hat das offensichtlich verstanden, beziehungsweise wollte sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, korrumpierbar zu sein. Am Abend, auf der Feier zum 40. Geburtstag der Grünen, lehnte sie das Angebot des Siemens-Chefs ab. Im Gespräch mit den Grünen-Politikern Robert Habeck und Christian Ströbele sagte Neubauer, sie habe Wichtigeres zu tun: die Welt zu retten.

Rasiermesserscharf ist die Welt während der Woche an einer Eskalation im Nahen Osten vorbeigeschrammt. Börsianer hatten sich bereits verschanzt, bevor überraschend friedliche Töne aus dem Weißen Haus wie auch aus Teheran den Pulverdampf abziehen ließen. Damit schlitterten auch die Börsen an einem verkorksten Jahresauftakt vorbei. In der Euphorie der Erleichterungsrally stehen die Chancen gut, dass bald neue Rekorde erreicht werden. ​

Dem Dow Jones Industrial gelang am Freitag zumindest erstmals in seiner Geschichte die runde Marke von 29.000 Punkten zu überspringen. Allerdings konnte er sich nicht lange auf dieser Rekordhöhe halten. Zum Handelsschluss verlor der Leitindex 0,5 Prozent auf 28.824 Punkte. In der Spitze war es für das wohl bekannteste Börsenbarometer der Welt bis auf 29.009 Zähler hinaufgegangen. Auf Wochensicht verzeichnete der Dow ein Plus von rund 0,7 Prozent. Auch den anderen Indizes in New York ging nach dem Erreichen neuer Rekorde die Luft aus. Der marktbreite S&P 500 schloss 0,3 Prozent schwächer auf 3.265 Punkten. Für den technologielastigen NASDAQ 100 ging es um ebenfalls 0,3 Prozent auf 8.967 Zähler nach unten.

Unter den Einzelwerten erreichten im Technologiesektor die Aktien von Apple, Facebook und Alphabet im Verlauf erneut Rekordhöhen. Für Facebook sprachen die Analysten von Bernstein Research vor dem Wochenende eine Kaufempfehlung aus. Mit einem Kursziel von 250 US-Dollar trauen sie den Papieren des Werbe- und Datenkonzerns mittelfristig noch einiges zu. Zum Handelsschluss notierten die Facebook-Anteile jedoch etwas im Minus mit 0,1 Prozent auf 218,06 Dollar. Apple und Alphabet verzeichneten Gewinne.

Die Aktien des Flugzeugbauers Boeing setzten ihren Zickzack-Kurs der vergangenen Tage fort. Nach ihrer Erholung am Vortag schlossen sie am Freitag als schlechtester Dow-Wert mit minus 1,9 Prozent. Zwar vermuten immer mehr Politiker öffentlich einen unabsichtlichen Raketenangriff des Irans als Grund für den Absturz der Passagiermaschine vom Typ 737-800 bei Teheran zur Wochenmitte. Gleichwohl steht Boeing nach wie vor unter Druck; denn die technischen Probleme mit der 737 Max nach zwei Abstürzen im Oktober 2018 und März 2019 sind nach wie vor nicht gelöst, die Produktion bleibt unterbrochen.

Dow-Spitzenreiter waren die Papiere des Pharmakonzerns Pfizer mit plus 1,5 Prozent. Der Gesundheitssektor behauptete sich in dem schwächeren Gesamtmarkt recht gut. Eli Lilly gewannen nach Ankündigung einer Übernahme 1,5 Prozent. Der Pharmahersteller kauft das auf Hautkrankheiten spezialisierte Unternehmen Dermira für 1,1 Milliarden Dollar.

Der deutsche Aktienmarkt zeigte sich am letzten Handelstag vor dem Wochenende von seiner sonnigen Seite. Im Tagesverlauf stieg das Börsenbarometer auf ein Zwei-Jahres-Hoch von 13.548 Punkten und näherte sich damit seinem Rekordhoch auf etwa 50 Zähler an. Zum Börsenschluss konnte der Index die Bestmarke allerdings nicht halten und schloss leicht darunter bei 13.483 Punkten..

Viel wird über den Anlagenotstand in Zeiten des Niedrigzinses diskutiert. Dabei ist die Lösung ebenso einfach wie lohnenswert: dividendenstarke Aktien. Dies bestätigt einmal mehr eine Studie der LBBW. Danach liegt die laufende Rendite von Aktien mit einer durchschnittlichen Dividendenrendite von 2,9 Prozent (DAX) beziehungsweise 3,3 Prozent (Euro Stoxx 50) auf Basis der erwarteten Ausschüttungen fürs Geschäftsjahr 2019 nach wie vor markant über den aktuellen Negativrenditen von Bundesanleihen, aber auch klar über der Rendite anderer Eurostaatsanleihen ordentlicher Bonität oder von Unternehmensanleihen mit Investment-Grade-Qualität.

Wie sehr dividendenstarke Titel am Anlageerfolg beteiligt sind, zeigt der Vergleich des DAX-Performanceindex mit dem DAX-Kursindex ohne Dividenden. Der populärere Performanceindex umfasst ausgeschüttete Dividenden und hat, ausgehend vom Startniveau am 1. Januar 1988, bis zum 1. Januar 2020 in 32 Jahren um 8,4 Prozent per annum zugelegt. Der DAX-Kursindex gewann im selben Zeitraum nur 5,7  Prozent hinzu. Damit erzielt ein DAX-Portfolio, in dem Dividenden reinvestiert werden, eine Mehrrendite von 2,7 Prozentpunkten pro Jahr.

Die Konsumenten zählen im Euroraum nach wie vor zu den Stützen der Konjunktur. So gehen die drei Forschungsinstitute Ifo, KOF und Istat in München, Zürich und Rom davon aus, dass das Wirtschaftswachstum des Euroraums im vierten Quartal des vergangenen Jahres 0,3 Prozent betrug. Die Institute erwarten, dass die Wirtschaft im Eurogebiet auch in den beiden ersten Quartalen des neuen Jahres jeweils um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal wächst. Der Haupttreiber dieser Entwicklung ist der Konsum der privaten Haushalte. Er steigt jeweils um 0,3 Prozent.

Die wichtige Rolle der Verbraucher zeigt sich auch in Deutschland. Im zehnten Jahr in Folge verzeichneten Deutschlands Einzelhändler steigende Umsätze, wie aus einer ersten Schätzung des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Auf Basis der Zahlen bis einschließlich November lagen die Erlöse im Gesamtjahr preisbereinigt um etwa 2,9 Prozent höher als 2018. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im gleichen Zeitraum nur um 0,5 Prozent.

Der Siegeszug der ETF-Branche geht unvermindert weiter. Das in börsennotierten Indexfonds verwaltete Vermögen stieg in den vergangenen zwölf Monaten weltweit auf knapp elf Billionen US-Dollar. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren lag das Volumen noch bei 2,3 Billionen US-Dollar. „Dies war eine Dekade, die die Überlegenheit von Indexlösungen gezeigt hat“, erklärt Ben Johnson, Leiter ETF-Research beim Analysehaus Morningstar. Branchenprimus bleibt die Blackrock-Tochter iShares, die global über zwei Billionen Dollar an verwalteten Vermögen und einen Marktanteil von 33  Prozent vermelden konnte. Während passive Fondsanbieter große Verkaufserfolge feiern, müssen traditionelle Fondshäuser Federn lassen.


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