Tichys Einblick
Der Marktausblick

Karlsruhe genehmigt deutsche Teilnahme am EU-Wiederaufbaufonds

In Brüssel und einigen südeuropäischen Hauptstädten dürfte die Erleichterung am Dienstagmorgen groß gewesen sein. Deutschland darf sich trotz „gewichtigen Bedenken“ des Bundesverfassungsgerichtes am Corona-Wiederaufbaufonds der Europäischen Union über 750 Milliarden Euro beteiligen.

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Der Richter Peter Müller war mit der Entscheidung seiner Kollegen allerdings nicht einverstanden und schrieb ein Sondervotum. Die Kläger befürchteten nicht demokratisch legitimierte Haftungsrisiken für Deutschland in dreistelliger Milliardenhöhe und sahen einen Verstoß gegen die No-bail-out-Klausel der Maastrichter Verträge (keine Haftung für oder Übernahme von Verbindlichkeiten eines EU-Staates durch einen anderen).

Der EU-Wiederaufbaufonds stellt laut den Richtern keine „offensichtliche“ Überschreitung des geltenden Integrationsprogramms der EU dar, er beeinträchtige nicht die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages und verletze auch nicht die Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Die EU hatte nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Jahr 2020 im Juli den sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro aufgelegt. Im Jargon der Brüsseler PR-Strategen heißt der Fonds „Next Generation EU“ (NGEU). Zyniker spotten, dass damit wohl gemeint sei, dass die nächste Generation die Schulden wird zurückzahlen müssen.

Aus Sicht der Kläger wird das Haushalts- und Finanzsystem der EU durch den Wiederaufbaufonds einem Systemwechsel gleich auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dadurch entwickle sich die Gemeinschaft weiter in eine Transferunion, die nicht von den Verträgen gedeckt sei. Deshalb hätten Bundestag und Bundesrat der Brüsseler Initiative nicht zustimmen dürfen. Der Fonds finanziert sich durch die Ausgabe von EU-Anleihen über den Kapitalmarkt, also durch Fremdkapital beziehungsweise Schulden der EU. Die Mittel reicht die Kommission dann an die Mitgliedsländer weiter – jeweils hälftig als Kredit und als Geschenk.

Die Kläger stehen mit ihrer Auffassung nicht alleine da. Auch nach Ansicht von Kay Scheller, dem Präsidenten des Bundesrechnungshofes, handelt es sich bei dem Fonds faktisch um eine Vergemeinschaftung von Schulden und Haftung. Zudem kritisiert die Deutsche Bundesbank, dass einige der Verpflichtungen, für die die Mitgliedsländer garantieren, in den nationalen Statistiken nicht auftauchen. Das Urteil ist deshalb so gefährlich, weil es der EU den nächsten Schritt in Richtung Transferunion ermöglicht, ohne dass die Bürger in den Mitgliedsländern darüber direkt abstimmen können. Bei der nächsten Krise wird die EU wieder eigene Mittel aufnehmen – und im Krisenmodus sieht sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre Kollegen in Brüssel fast dauernd. Am zweiten Adventssonntag forderte sie eine aktive Industriepolitik, um im globalen Wettbewerb um grüne Technologien bestehen zu können. Auch dafür wolle sie neue Gemeinschaftsanleihen ausgeben.

Deutsche Aktionäre schauten in der vergangenen Woche nach München. Dort hat am Donnerstag mit dem Strafprozess gegen Markus Braun, den ehemaligen Chef des 2020 kollabierten Wirecard-Konzerns, die Aufklärung der wohl größten Bilanzfälschung der deutschen Nachkriegsgeschichte begonnen. Erst der kometenhafte Aufstieg zum Fintech-Börsenstar und DAX-Konzern, dann der dramatische Absturz in die Insolvenz – mit Braun sitzen zwei weitere ehemalige Manager auf der Anklagebank. Der gebürtige Wiener drehte als Vorstandsvorsitzender, Technikchef und Großaktionär das ganz grßse Rad. 2018 rückte der Konzern in den DAX auf, zwei Jahre später war der Zahlungsdienstleister pleite – und der einstige Starmanager sitzt seitdem im Gefängnis; die Staatsanwaltschaft wirft ihm gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Marktmanipulation, Untreue und unrichtige Darstellung (in den Konzernabschlüssen der Jahre 2015 bis 2018) vor. Im Falle von Schuldsprüchen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Anleger verloren im Vertrauen auf Brauns Aussagen viele Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die über viele Jahre die Bücher von Wirecard testierte, hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Erst 2020 merkte sie offensichtlich, dass es keine ausreichenden Nachweise für die Existenz von Bankguthaben aus dem Asien-Geschäft in Höhe von 1,9 Milliarden Euro gab. Das für das Geschäftsjahr 2019 verweigerte Testat löste schließlich den Kollaps des Konzerns aus.

An einem über weiten Strecken relativ robusten Freitag zogen sich die Anleger an den US-Börsen im späten Handel zurück. Obwohl der Preisauftrieb auf Herstellerebene wieder für Unsicherheit sorgte, blieben die Bewegungen lange moderat. In der Schlussstunde jedoch gingen die Anleger dann aus dem Risiko. Der Dow Jones Industrial verabschiedete sich 0,9 Prozent tiefer mit 33.476 Punkten ins Wochenende. Damit steigerte er sein Minus im Wochenverlauf auf 2,8 Prozent. Der marktbreite S&P 500 verlor 0,7 Prozent auf 3.934 Zähler. Der technologiewertelastige Nasdaq 100 büßte 0,6 Prozent auf 11.563 Punkte ein. Sein Wochenminus erhöhte sich damit auf 3,6 Prozent.

Die Erzeugerpreise, deren Anstieg sich im November weniger als erwartet abgeschwächt hatte, sind ein eher schlechter Vorbote für die Verbraucherpreise, die in der kommenden Woche veröffentlicht werden. Verlangsamt sich ihr Anstieg nicht, bleibt der Druck auf die US-Notenbank hoch, die Zinsen weiter deutlich zu erhöhen. Bislang gehen Beobachter noch davon aus, dass die US-Notenbank Fed am Mittwoch ihr Zinserhöhungstempo abschwächen wird.

Auf Unternehmensseite kamen die relevanten Nachrichten von Nasdaq-Werten. Entgegen der Marktschwäche zogen die Papiere von Netflix um 3,1 Prozent an, nachdem die US-Bank Wells Fargo den Titeln des Streaming-Dienstes eine Empfehlung ausgesprochen hatte. Der Kurs kletterte auf das höchste Niveau seit dem Kurssturz im April, der nun bald ausgeglichen werden könnte. Analyst Steven Cahall positionierte sich in seiner Studie sehr optimistisch für 2023 mit einer wieder verbesserten Abonnenten-Entwicklung. Den Spitzenrang im Nasdaq 100 erklomm aber DocuSign, hier schnellten die Aktien um 12,4 Prozent nach oben.

Das auf elektronische Unterschriften spezialisierte Software-Unternehmen veröffentlichte für das dritte Geschäftsquartal einen bereinigten Gewinn je Aktie, der die durchschnittliche Analystenschätzung um fast das Vierfache übertraf. Auf der schwachen Nasdaq-Seite fielen die Titel von Lululemon auf, die nach der Veröffentlichung von Geschäftszahlen um fast 13 Prozent absackten. Der Sport- und Yogabekleidungs-Hersteller hatte im abgelaufenen Geschäftsquartal mit seiner Profitabilität enttäuscht. Auch der Ausblick auf das Schlussquartal klang im Vergleich zu den Markterwartungen nicht überzeugend.

Eine von Lethargie, Abwarten und Kursschwächen geprägte Börsenwoche hatte zuvor in Frankfurt doch noch mit Gewinnen geendet. Der deutsche Leitindex Dax schloss 0,7 Prozent höher mit 14.371 Punkten. Stärker als erwartet gestiegene US-Erzeugerpreise belasteten die Kurse nur kurzzeitig, der Dax legte rasch wieder den Vorwärtsgang ein. Auf Wochensicht steht allerdings ein Minus von gut einem Prozent zu Buche. Der MDax legte vor dem Wochenende um 0,6 Prozent auf 25.604 Zähler ebenfalls zu.

Anleger dürften vor den mit Spannung erwarteten letzten Notenbanksitzungen in diesem Jahr in Frankfurt und Washington das Pulver trocken gehalten haben. Am Mittwoch tagt die Federal Reserve, gefolgt von der Europäischen Zentralbank am Donnerstag. Leitzinserhöhungen um jeweils 0,5 Prozentpunkte gelten als ausgemachte Sache. Sie dürften Beobachtern zufolge an den Märkten bereits eingepreist sein. Die Prognosen der Währungshüter für die Zukunft könnten aber die Börsen vor dem Jahresende noch einmal durcheinander wirbeln.

Am Freitag waren vor allem Titel aus dem Automobilsektor gefragt. BMW, Continental und Mercedes-Benz legten zwischen 1,9 und 2,7 Prozent zu. In den vergangenen Tagen hatte der Automobilsektor nachgegeben, nun griffen Anleger auf niedrigerem Niveau wieder zu. Chefstratege Ulrich Stephan von der Deutschen Bank zufolge könnte sich die Automobilnachfrage 2023 spürbar verbessern. Die Papiere von Adidas und vor allem Puma trotzten negativ aufgenommenen Nachrichten des amerikanischen Sportbekleidungshändlers Lululemon. Während Puma mit plus 2,2 Prozent sogar zu den Dax-Spitzenwerten zählten, stiegen Adidas um 1,2 Prozent.

Im MDax waren Carl Zeiss Meditec das Schlusslicht mit einem Abschlag von 3,2 Prozent. Damit erholten sich die Papiere des Medizintechnikkonzerns aber von anfangs deutlich höheren Verlusten. Für das Geschäftsjahr gehen die Jenaer von einem Rückgang der Profitabilität aus, während Analysten bisher mit einem leichten Anstieg gerechnet hatten.

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