Tichys Einblick
Insolvenzstau

Trotz weniger Insolvenzen: Forderungen der Gläubiger steigen stark an

Im vergangenen Jahr meldeten die Amtsgerichte so wenige Firmen-Insolvenzverfahren wie seit 1999 nicht. Trotzdem stiegen die Forderungen der Gläubiger deutlich, was dafür spricht, dass Insolvenzen verzögert werden. Besonders in zwei Branchen könnte ein Insolvenzstau vorliegen. Von Elias Huber

IMAGO / Ralph Peters

Die Zombifizierung der deutschen Wirtschaft schreitet offenbar voran. Im vergangenen Jahr meldeten die Amtsgerichte so wenige Unternehmensinsolvenzen wie noch nie seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999. Trotzdem erhöhten sich die Forderungen, auf welchen die Gläubiger möglicherweise sitzen bleiben, um knapp 65 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Insgesamt betrugen sie 44,1 Milliarden Euro. Der Anstieg sei darauf zurückzuführen, “dass 2020 mehr wirtschaftlich bedeutende Unternehmen Insolvenz beantragt haben als 2019”, erklärte die Behörde. Die Zahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen lag bei 15.841 und sank damit um 15,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Grund für das historische Tief sei die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht im vergangenen Jahr, schreibt das Statistische Bundesamt. Bis zum 31. Dezember mussten überschuldete Unternehmen keine Insolvenz anmelden. Laut dem Amt ist die Insolvenzantragspflicht bis Ende April weiterhin ausgesetzt und zwar für alle Unternehmen, welche die Hilfszahlungen bislang nicht erhalten haben, die ab dem 1. November vom Gesetzgeber vorgesehen waren.

Das Pikante: Die Zahl der beantragten Firmeninsolvenzen war im Baugewerbe (2500) höher als im Handel (2466) und im Gastgewerbe (1775). In jeder der drei Branchen sank zudem die Zahl der Insolvenzen im Vergleich zum Vorjahr deutlich. Gerade im Handel und der Gastronomie, die vom Lockdown mit am stärksten betroffen sind, könnte somit ein massiver Insolvenzstau vorliegen. Laut einer Umfrage des Dehoga unter 6500 Mitgliedern erwog zuletzt jeder vierte Gastronom, seinen Betrieb zu schließen. Hochgerechnet auf die rund 220.000 Branchenunternehmen würde das die Schließung von 55.000 Betrieben bedeuten. Vor diesem Hintergrund mutet die Zahl von 1775 Insolvenzverfahren sehr gering an.

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Der Insolvenzstau könnte auch zu einer Überlastung des Justizsystems führen. Der Anwalt Volker Römermann schätzt in einem Interview, dass es in Deutschland höchstens 10.000 auf Insolvenzrecht spezialisierte Anwälte gebe, die derzeit arbeiteten. Wenn also mehr Firmen Insolvenz anmelden, könnte das die Insolvenzexperten schnell an ihre Belastungsgrenze bringen. Römermann, der Professor an der Berliner Humboldt-Universität ist, gilt laut Handelsblatt als “einer der führenden Insolvenzexperten Deutschlands”.

Laut dem Statistischen Bundesamt zieht die Zahl der beantragten Regelinsolvenzen seit November wieder an. Damals stieg sie um 5 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Im Dezember setzte sich der Trend mit einem Plus von 18 Prozent fort, während im Januar die Amtsgerichte wieder 5 Prozent weniger Verfahren meldeten. Im Februar erhöhte sich die Zahl um 30 Prozent, lag aber immer noch um 11 Prozent unter dem Wert vom Februar 2020. Rund 55 Prozent der Regelinsolvenzverfahren betreffen laut dem Statistischen Bundesamt Unternehmen. Regelinsolvenzverfahren stehen für 30 Prozent aller Insolvenzverfahren.

Neben den Unternehmen sank auch die Zahl der beantragten Insolvenzen unter den Verbrauchern (-33,3 Prozent) und den ehemals Selbstständigen (-25,8 Prozent). Insgesamt meldeten die Amtsgerichte 75.044 beantragte Insolvenzen. Das ist ein Minus von 27,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.


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