Tichys Einblick
Das Schicksal von Pamir und Rente

Länger arbeiten für die Rente der anderen

Eifrig arbeitet die Ampel-Koalition am Ausbau neuer Sozialleistungen. Wer die Millliardengeschenke bezahlen soll, verschweigt sie. Gerade die Jüngeren könnten dahinterkommen, dass sie zukünftig länger und härter für die Renten der anderen arbeiten müssen.

IMAGO/Panthermedia
Die Viermastbark Pamir gehörte zu den wegen ihrer Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit berühmten Flying P-Linern; 1932 gewann sie die Weizenregatta, eine Wettfahrt von Großseglern auf Frachtfahrt von Australien nach Europa. Die Pamir sank am 21. September 1957 in einem Hurrikan. Die letzte Ursache für den Untergang, bei der 80 der 86 Mannschaftsmitglieder umkamen, darunter viele Kadetten der gleichzeitig als Schulschiff dienenden Pamir, ist umstritten. Die Ladung an Gerste soll im Sturm verrutscht sein und das Schiff zum Kentern gebracht haben. Andere Experten berichten von Lecks.
Der Untergang des Sozialstaats, wie wir ihn kennen

Der Untergang der Pamir eignet sich als Metapher für eine noch viel bedrohlichere Katastrophe: den Untergang des Sozialstaats, wie wir ihn kennen.

Längst geht es nicht mehr um die Frage, wieviel Rente noch sicher ist, wie hoch die Krankenkassenbeiträge steigen, wer die wachsenden Pensionslasten der Beamten finanzieren und woher die Mittel für Harz IV und Pflegeversicherung kommen sollen. Mit großen und kleinen Lecks laboriert der Sozialstaat seit den 70er Jahren, pumpt mal da Geld hinein und schließt ein Loch dort. Reformen in jeder Legislaturperiode verkomplizierten das System bis zur kompletten Unübersichtlichkeit, aber retteten das oft totgesagte Schiff – irgendwie. Seit die organisierte Verantwortungslosigkeit unter Angela Merkel zum Prinzip der Politik erhoben wurde, scheint allerdings der Untergang unausweichlich – weil die Ladung verrutscht, und Kentern der schnelle Untergang jedes Schiffs wird.

Die Gesamtzahl der Erwerbs­personen zwischen 15 und 74 Jahren in Deutschland wird – je nach zugrundeliegenden Annahmen – von 43,6 Millionen im Jahr 2019 mindestens auf 41,5 Millionen und höchstens auf 33,3 Millionen im Jahr 2060 abnehmen.

Von Anfang der 1990er Jahre bis Anfang der 2020er Jahre profitiert Deutschland von einer sogenannten demografischen Dividende. Die stark besetzten Jahrgänge der Baby-Boomer – geboren zwischen Ende der 1950er und Ende der 1960er Jahre – waren im Erwerbsalter, führten Beiträge und Renten ab. In den nächsten zwei Jahrzehnten wird die Baby-Boomer-Generation aus dem Erwerbsalter verschwinden – und die Zahl der Rentner und Pensionäre erhöhen. Die Boomer wechseln die Seite – von Beitragszahlern hin zu Leistungsempfängern. Auch, weil immer mehr Frauen berufstätig wurden, stieg die Anzahl der wirtschaftlich Aktiven auf die Rekordzahl von 45 Millionen; die zugewanderten „Gastarbeiter“ trugen einen wesentlichen Anteil bei. In den nächsten Jahren werden 10 Millionen Erwerbstätige fehlen. Die Ladung verrutscht.

Dieser demografische Wandel wurde seit den Nuller-Jahren immer wieder diskutiert und problematisiert. Die große Unbekannte dabei ist die Zuwanderung – und ihre Folgen. Es sind theoretische Berechnungen, die davon ausgehen, dass bei mit Zuwanderung die Lücke geschlossen werden könnte. Mindestens 400.000 Zuwanderer bräuchte Deutschland pro Jahr, behauptet etwa der Chef der Bundesarbeitsagentur Detlef Scheele. 

Das wäre viel, aber erreichbar, immerhin sind im Jahr 2020 1.186.702 Personen nach Deutschland zugezogen, und 2015 waren es sogar 2,2 Millionen. Aber der Übergang von der Analyse zur Milchmädchenrechnung ist fließend. Offiziell ist jeder vierte Arbeitslose Zuwanderer. Fast zwei Drittel aller erwerbsfähigen als Syrer in Deutschland Registrierte leben ganz oder teilweise von Hartz IV. Mit 65 Prozent war ihr Anteil im März dieses Jahres deutlich höher als unter Ausländern aus anderen Hauptherkunftsländern. Wie aus einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht, bezogen beispielsweise 37,1 Prozent der Somalier im erwerbsfähigen Alter im gleichen Zeitraum Hartz-IV-Leistungen. Unter den Afghanen lag der Anteil bei 43,7 Prozent. Es sind sorgfältig geschönte Zahlen. Als Erwerbstätige gelten Zuwanderer schon, wenn sie nur einen Sprach- oder Integrationskurs belegen. So wird die Arbeitslosigkeit verborgen und hohe Beschäftigung für die Statistik simuliert.

Die Tüchtigen wandern ab, Empfänger zu

Die derzeitige Form der Zuwanderung wenig qualifizierter und integrationsbereiter Menschen löst die Probleme nicht – sondern verschärft sie. Zukünftig werden weniger Erwerbstätige nicht nur Renten- und Pensionslasten für Ältere finanzieren müssen – sondern auch die Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe für immer mehr Zuwanderer. Arbeitskräftemangel bei wachsender Arbeitslosigkeit, auch wenn diese statistisch versteckt wird, gehören zusammen. Der Sozialstaat gerät in Schieflage, wenn weniger Beitrags- und Steuerzahler eine wachsende Anzahl von Versorgten finanzieren müssen.

Es ist ja nicht so, dass das Problem nicht bekannt wäre – und doch handelt die Politik seit Merkel und unter Scholz, als wären diese Zahlen unbekannt.

Trotzdem wurde die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren eingeführt; Kanzlerin Angela Merkel und ihre Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles haben dies zu verantworten. Dazu kommen Erleichterungen bei betrieblichen Rege­lungen über den Arbeit­geber wie Altersteilzeit und Vorruhestand. Alle Regelungen haben eines gemeinsam: Die Zahl der Rentner wird großzügig erhöht – die Zahl der Beitragszahler schrumpft. Das wird meist als „sozial“ bejubelt, aber ist das Gegenteil: Die Ladung verschiebt sich. Wer noch arbeitet, ist der Dumme. Aber wer ist schon gerne der Dumme?

Rund 220.000 Deutsche wandern pro Jahr aus. Viele davon sind qualifizierte Fachkräfte, ergab eine Umfrage: Die befragten Aus- und Rückwanderer sind deutlich jünger als die deutsche Wohnbevölkerung, überproportional viele stammen aus einem bildungsnahen Elternhaus und haben deutlich höhere Bildungsabschlüsse. Akademiker und Führungskräfte sind unter den Auswanderern stark überrepräsentiert. Für rund die Hälfte ist es eine Reise ohne Wiederkehr. Je höher Steuern und Abgaben in Deutschland steigen, umso attraktiver ist Auswanderung. Das gilt auch umgekehrt: Qualifizierte Auswanderer der Welt machen vielfach einen Bogen im Deutschland: Warum in ein Land einwandern, das von seinen Berufstätigen rund 60 Prozent Abgaben kassiert? Deutschland verliert den globalen Kampf um Talente. Wer arm ist und unqualifiziert, wandert ein. Wer qualifiziert und wohlhabend, wandert aus. Es sind Entscheidungen, die jährlich Hunderttausende treffen – wieder verschiebt sich die Ladung im Schiff.

Die Bundesbank errechnete die Folgen, wenn das Rentenniveau zur gesetzlichen Rente dauerhaft auf derzeit 48 Prozent festgeschrieben wird. Bis zum Jahr 2040 würde der Beitragssatz von derzeit 18,6 Prozent auf 25 % hochschnellen und bis 2070 weiter auf 29 Prozent ansteigen. Aktuell liegt er bei 18,6 Prozent, die sich Beschäftigte und Arbeitgeber formal teilen. Arbeit bis 70 ist das Rezept, dass die Bundesbank den Rentnern verschreibt, um diesen untragbaren Anstieg zu vermeiden. Oder sind Rentenkürzungen unvermeidlich?

Die Deutsche Rentenversicherung meldet aktuelle Zahlen, aus denen hervorgeht, dass derzeit 7,7 Millionen Rentner weniger als 700 Euro im Monat erhalten.

Da passt es, dass die Krankenversicherungen schon im kommenden Jahr die Beiträge erhöhen wollen. Oder besser gesagt: müssen. Irgendeine Vorstellung, wie steigende Ausgaben aufgefangen werden könnten, hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach bislang nicht vermittelt. In Schweigen hüllt sich Rentenminister Hubertus Heil. Aber hätte die Pamir gerettet werden können, wenn Kapitän und Offiziere einfach die Augen fest zugedrückt hätten? Beruhigt wegschauen bei einem heraufziehenden Sturm? Zurrt Ignoranz rutschende Ladung fest? Es ist ja nicht so, dass die Ampel gar nichts unternehmen würde. Um 125.600 Stellen ist der öffentliche Dienst allein im Jahr 2021 angeschwollen, so das Statistische Bundesamt. Das entspricht einem Wachstum von 2,5 Prozent. Fast 800 zusätzliche Beamte gönnt sich die Ampel in Berlin für Freunde und Parteispezl; in der Größenordnung ist das so viel wie ein komplettes zusätzliches Ministerium.

Milliarden für die Günstlingswirtschaft

Auch die rot-gelbe-grüne Günstlingswirtschaft will finanziert werden. Allein die Beamten, die für den Bund tätig waren oder derzeit noch sind, haben Anspruch auf 809 Milliarden Euro. Das ist ein Anstieg von 88 Prozent gegenüber dem Jahr 2011. Dazu kommen noch 1,23 Billionen Euro für Landesbeamte. Macht unterm Strich 2,039 Billionen Euro Pensionsverpflichtungen oder 60 Prozent der gesamten wirtschaftlichen Leistung Deutschlands: Das Land dient seinen Staatsdienern. Ausgeschrieben eine Bandwurmzahl: 2.039.000.000.000. Pro Bundesbürger sind das rechnerisch 24.715 Euro „Pensionsverpflichtungen“ – Kleinstkinder mit eingerechnet, so eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Das war im Jahr 2020 – vor dem jüngsten Beamten-Ampelboom. Das Bewusstsein für langfristig nachhaltige Finanzierung fehlt ebenso wie die Einsicht in die Folgen einer verrutschenden Ladung: Was passiert, wenn weniger Beitragszahler mehr Leistungsempfänger finanzieren müssen? Werden die Arbeitnehmer und Unternehmer der Zukunft die absehbare Belastung von 80 Prozent ihrer Einkommen und Gewinne hinnehmen – oder wandern sie ab und bringen das Ganze endgültig ins Rutschen? Wer die Millliardengeschenke bezahlen soll und wie das Gleichgewicht stabilisiert werden könnte, verschweigt die Koalition. Gerade die Jüngeren könnten dahinterkommen, dass sie zukünftig länger und härter für die Renten der anderen arbeiten müssen. Es sagt ihnen derzeit nur keiner. Die Begeisterung für rot-grün-gelbe Politik könnte schwinden.

Nach dem Untergang der Pamir wurden die letzten Fracht-Segler außer Dienst gestellt; das Ende der Ära der Großsegler und der absolute Triumph der Dieselmotoren waren besiegelt. Ein neuer, alternativer Motor, der den Sozialstaat antreibt, ist allerdings nicht in Sicht.

Anzeige