Tichys Einblick
Zwischenspiel

EU-Wahl: Zwischen Schicksalswahl und Seifen-Oper

Die größten Feinde Europas sind seine angeblichen Freunde. Am Montag legen sie EU-Europa wieder auf die Seite, das Drama endet flach, die Plakate werden abgerissen - nur die Spaltung bleibt. Und die deutsche Innenpolitik.

Getty Images

Schicksal, überall weht das Schicksal: Europas Bahnunternehmen fordern in Zeitungsanzeigen Freie Bahn in Europa, geradeso, als würden die EU-Wahlen irgendwie bewirken, dass die Züge pünktlicher werden. Und als habe es eine europäisches Schienenssystem nie gegeben – dabei war Paris-Moskau mit Zwischenstation in Berlin die Realität vor dem Ersten Weltkrieg.

Vom alten Kohlekraftwerk in Wolfsburg bekennt sich VW per Riesenposter zu EU-Europa; auch zu den EU-Diesel-Grenzwerten, an denen man sich vorbei schummeln wollte? Ach ja, Einhaltung. on Bahn-Fahrplänen, Abgasnormen und neue Arbeitsplätze – das wäre irgendwie konkret. Leider redet davon niemand. Es geht dafür um das ganz Große, um „Europa“, als ob der Kontinent versinken würde.  Keiner darf abseits stehen und muss dieses Europa retten. Und wenn es nur Reifen sind – der Gummi-Konzern Michelin wirbt für die neue EU-Reifenverordnung -„Gemeinsam für sichere Reifen“, die den Absatz der Pneus steigen soll. Da ist die bekannte Lobby-EU wenigstens ehrlich.

Um wieviel Schicksal geht es?

Geht es wirklich um Europa, um unser Schicksal? Die Wahrheit ist banal. Da ist mehr Show als Realität. Die „Europawahl“ ist eine Hochstapelei. Europa umfasst mehr Länder, nämlich 49, mehr als jene 28 minus Großbritannien der EU.  Das gefeierte EU-Parlament ist nur eine Art Länderkammer: Deshalb hat die Stimme eines Bürgers aus Malta etwa elfmal so viel Gewicht wie die eines Deutschen. „One man – one vote“, das Grundgesetz des Parlamentarismus gilt nicht in EU-Europa. Man kann es eher mit einer Art Volkskongress vergleichen – ein Parlament im eigentlichen Sinne ist es nicht.

Es ist zudem ein Parlament ohne wirkliche Kompetenzen, es kann nicht einmal über seinen Sitz bestimmen – mal Brüssel, mal Straßburg. Es ist ein Parlament ohne eigenen Haushalt – somit ohne „Königsrecht“.

Letztendliche Entscheidungen werden vom EU-Rat getroffen, der Runde der Regierungschefs der (noch) 28 Mitgliedsländer. Und diese Regierungschefs sind gerade dabei, dem Parlament wieder jenes Fitzelchen Macht zu entreißen, das es sich erobert hat: Der „Spitzenkandidat“ der stärksten Fraktion sollte quasi automatisch Kommissionspräsident werden, und damit vom obersten Bürokraten zum gewählten „Präsidenten“ wenigstens der billigen Sorte aufsteigen. Daher wird Spitzenkandidat Manfred Weber wohl nichts – den Kommissionspräsidenten wird nicht das Parlamentchen bestimmen, den werden die Regierungschefs auskarteln, wetten? Darüber wird geschwiegen, die große Illusion einer folgenreichen Wahl muss aufrecht erhalten werden, obwohl Manfred Weber, der Nenn-Spitzenkandidat, schon so sichtbar verzweifelt wirkt. Er weiß, was auf ihn zukommt. Weine nicht, kleiner Weber! Zu irgendeinem schönen Pöstchen wird’s schon reichen.

Take the Money and run

Deswegen beunruhigten die Wahlen die Parteien auch nicht sonderlich: Sie kassieren die Wahlkampfhilfe für die nationalen Wahlkämpfe. Take the Money and run! Das ist das EU-Credo. Die SPD entsorgt damit die überforderte Justizministerin Katarina Barley nach Brüssel, die Union stellt Manfred Weber auf, der sich bleibende politische Verdienste als Bezirksvorsitzender der CSU in Niederbayern erworben hat und als netter Kerl gilt. Es ist ja auch egal, ehrlich. Ob ein paar CDUler oder SPDler mehr oder weniger in diesem Parlament vertreten sind, ist grad gleichgültig, außer für die betreffenden Spesenritter. Von den 751 Abgeordneten kommen 96 aus Deutschland. Ob ein paar CDUler mehr oder weniger drin sitzen, die AfD ein paar Sitze gewinnt oder nicht und wie weit die SPD abstürzt, ist damit belanglos. Die Wahl entscheidet nichts. Kein Schicksal, nirgendwo. Das Parlament ist überflüssig wie ein Kropf, bloß teurer.

Der Denkzettel als Symbol

Es geht allein um Symbolik, und da droht am Wahlabend ein Denkzettel. Und nur darum geht es. Und deshalb wird die Wahl zum Schicksal hochgejubelt: Irgendwie braucht die SPD wenigstens 15 oder besser 16, vielleicht sogar 17 (mickrige) Prozente, um ihre mühsam erkämpfte Bedeutungslosigkeit zu tarnen. Die CDU will wenigstens stärkste Partei bleiben, um den Merkel-Malus nicht allzu deutlich als Ohrfeige empfinden zu müssen. Die AfD hofft auf demonstrative Verbesserung; die FDP bangt schon wieder ums Totenglöckchen, das so fein in der Ferne klingt und näher kommt. Ein Erdbeben könnte das Ergebnis in Deutschland auslösen: Wenn CDU und SPD jeweils zehn Prozentpunkte der Stimmen verlieren. Die SPD würde dann bei jämmerlichen 15 Prozent landen. Verliert sie bei den Landtagswahlen zum Bremer Senat am selben Tag die Rolle als stärkste Partei, flammt der innerparteiliche Krach neu auf. Dann gilt den Kritikern als erwiesen, dass die Teilnahme an der Großen Koalition glatter Selbstmord ist. Möglicherweise werden Merkels SPD­-Minister von der Basis gezwungen, ohne Dienstauto die Heimfahrt anzutreten. Für die Union stellt sich die Frage: Wie viele Wahlen will sie mit und für Merkel noch verlieren?

Es sind Machtdemonstrationen, die nach Innen wirken. Mit Europa – sprich EU – hat das nichts zu tun, Null Komma Nichts.

In anderen Ländern ist es nicht viel anders. Viele Franzosen wollen Macron die Gelben Westen um die Ohren hauen und werden vermutlich Marine Le Pen wählen; ob sie das bei den Wahlen zu Nationalversammlung und Präsident auch tun werden, steht auf einem ganz anderen Wahlzettel. EU ist nur ein Übungsfeld.

Aus Großbritannien marschieren die Brexiteers auf, aus Ungarn und Polen die Gegner grenzenloser Migration und unbegrenzter Vertiefung, aus
Italien jene, die das Eurojoch abschütteln wollen, selbst aus den EU-freundlichen Niederlanden kommt starke Ablehnung. Aber die EU aufgeben will keiner. Das wäre auch ziemlich dumm, wo doch die Deutschen so schön bezahlen. Also läuft es weiter, irgendwie, und das ist ja auch gut so und nicht wirklich Anlass zu Sorge.

Nur weil die EU-Wahl eine Denkzettelwahl für Berlin ist, wird Wagner-Musik abgespielt, in jeder Talk-Show der Untergang beschworen, und die Dümmlichkeit plakatiert.

Ginge es um Europa – dann wären da ein paar Themen

Ginge es um Europa, könnte man ja darüber streiten:

Brauche wir höhere Steuern für eine EU-Budget, oder reicht es schon, wie das Geld in Berlin verpulvert wird? Brauchen wir einen EU-Haushalt, und wer gewinnt das Geld, mal abgesehen von den französischen Bauern, den Griechen und den Italienern, die auch gerne mehr davon hätten – und schon deshalb in der EU bleiben. Raus will ja niemand, auch nicht die Polen und schon gar nicht die Ungarn oder Tschechen.

Aber um zusammenzubleiben – braucht es dafür eine Bankenunion, die Sparkassen-Einlagen nach Sizilien umleitet?

Brauchen wir dafür eine Europäische Armee, in der die Bundeswehr dann nicht mehr die „Parlamentsarmee“ sein wird, sondern nach Brüsseler Pfeife tanzen – besser gesagt: Schießen und bomben müsste?

Ist eine Sozialunion mit deutschem Geld wirklich eine gute Idee für deutsche Beitragszahler? Kann ja sein. Oder auch nicht.

Brauchen wir noch mehr Vorschriften aus Brüssel, oder reicht Berliner Regulierungswut schon?

Ist mehr Wettbewerb die Antwort auf die chinesische Herausforderung oder sind es nationale Champions. Die zur steuerfinanzierten Verfettung neigen? Sollte dafür die Entwicklungshilfe für China gesteigert werden, mit der die Deutschen die Messer kaufen, mit denen sie tranchiert werden?

Das sind nur ein paar Themen, über die es sich zu streiten lohnen würde – und bei jedem Thema kann man sich auf die eine Seite schlagen oder gerne auf die andere: Die Wahrheit hat bekanntlich niemand gepachtet, und ein guter Europäer kann sich für die jeweils andere Seite entscheiden.

Aber darum wird nicht gestritten – sondern Plakate werden geklebt, die an Stumpfsinn nicht zu überbieten sind: Und wer eine kritische Frage stellt, ist der Anti-Europäer schlechthin. Aber ist man Anti-Europäer, wenn man für mehr Wettbewerb und niedrigere Steuern plädiert? Wenn man die Verantwortung bei den Verursachern einer Bankenkrise festmachen will und nicht bei einer Volksbank, die vielleicht 1.000 km entfernt ihre Handwerker mit Krediten versorgt und zukünftig zur Kasse gebeten wird?

Wie die guten Europäer Europa zerstören

Die selbstherrlich auftretenden guten Europäer zerstören Europa, weil sie die Debatte über den richtigen Weg nach Europa nicht mehr diskutieren wollen.

Sie verlangen von den Wählern ein Blanko-Mandat, eine Blanko-Vollmacht: Gib mir Deine Stimme und ich mache Europa. Die Frage ist nur, welches Europa? Da herrscht dröhnendes Schweigen. Keine Antwort, dafür Antworten der SPD auf Fragen, die kein Mensch je stellen wird.

Leider machen die vorgeblichen Europa-Freunde sich nicht nur die Verständigen zum Feind, also jene, die auf einen Rest demokratischen Diskurs hoffen. Sie stellen sich auch als Einheitspartei vor. War in den vergangenen Wochen irgendein Unterschied zwischen CDUSPDGRÜNENFDP feststellbar? Diese Parteien sind aufgetreten wie Blockparteien. Wählt uns, die Guten, wählt nicht die Bösen. Wählt das Licht und nicht die Finsternis. Das ist per se undemokratisch. Aber viel schlimmer: Es schafft erst Interesse für die, die andere Fragen stellen.

Die Abweichler sind letztlich spannender als die dröhnend in der Kolonne Daherstampfenden. Die Fragen werden an den Rändern gestellt, die Diskussionen dort geführt, die Zukunft am Rande formuliert. In der vorgetäuschten Mitte des sich ängstlich aneinanderklammernden  Parteienblocks herrschen Einheitsdenken, Einheitssprüche, Einheitspropaganda, Einheitsideologie. Wer will das schon? Wer Europa liebt, der liebt die Vielfalt, die Debatte, das Ausprobieren und Austarieren. Nicht das Zwangsvereinheitlichen. Bürger sind keine Bananen mit Normkrümmungswinkel, sondern aus krummen Ideen werden gerade Gedanken erstritten und geformt.

Und ab Montag ist sowieso alles anders

Dann wird EU-Europa wieder auf die Seite gelegt, das Drama endet mit einem feuchten Misston, die Plakate werden abgerissen – nur die Spaltung bleibt. Und die deutsche Innenpolitik.

Dann stellt sich der CDU die Frage: Ist es nicht besser, jetzt einen Nachfolger für Merkel zu bestellen? Seine oder ihre Aufgabe wäre es, nach dem dann möglichen Ausscheiden der SPD eine neue Regierung zu bilden.

Rein rechnerisch könnte es dann doch zu Jamaika kommen, der Koalition mit FDP und Grünen. Aber die Grünen würden viel fordern, weit mehr Minister als die FDP – denn sie haben zwar wenige Abgeordnete, aber nach einer vorgezogenen Neuwahl des Bundestags könnten es doppelt so viele sein. Das weckt Begehrlichkeiten.

Kommt es zu einer Übergangs­Minderheitsregierung? Die Wahl für Straßburg und Brüssel könnte Berlin aus seiner Lethargie des „Weiter so“ wecken.

Und EU-Europa ist dann wieder eingeschlafen. Das Schicksal ist vorbei, die Wagner-Musik wird leise gedreht und Herr Weber nicht Kommissionspräsident. Aber wen juckt das?

Anzeige